Samuel Koch und die Inklusion auf dem Kirchentag

Foto: dpa/Jörg Carstensen
Samuel Koch bei einer Lesung in Berlin aus seinem Buch "Zwei Leben".
Samuel Koch und die Inklusion auf dem Kirchentag
Inklusion ist ein großes Thema auf dem Kirchentag, unter anderem mit Samuel Koch. Der blinde Frankfurter Journalist Keyvan Dahesch sieht den Medienrummel um Koch aber skeptisch. Denn es gibt zahllose Menschen mit Behinderungen, deren Geschichte mindestens ebenso wert ist, erzählt zu werden - und die nicht durch ein selbstgewähltes Risiko in dem neuen Leben mit Handicap gelandet sind.

Samuel Koch ist zu einem Prominenten geworden, als er im Dezember 2010 bei "Wetten, dass..?" daran scheiterte, mit Sprungstelzen über fünf Autos zu springen. Nun sitzt der gelähmte Ex-Sportler, inzwischen 26 Jahre alt, im Rollstuhl. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag wird er mit Bischöfin Kirsten Fehrs eine Bibelarbeit halten, auf der großen Bühne mit Bundespräsident Joachim Gauck diskutieren, Thema: "Eine starke Gesellschaft". Es geht um Inklusion, eines der großen Themen, die sich der Kirchentag auf die Fahnen geschrieben hat. Die Kirchentagsbuchhandlung wirbt für Samuel Kochs Buch "Zwei Leben", ein Lesetipp, steht in der Anzeige.

Der Start in dieses zweite Leben war eine waghalsige Wette. Samuel Koch hatte sich dafür bewusst in Gefahr begeben, das Risiko war hoch. Aber nicht zu hoch: Nach dem Unfall stellte ein Gutachten der Deutschen Sporthochschule Köln fest, dass die Wette nicht zu gefährlich war. Ein Athlet, wie Samuel Koch einer war, konnte die Sprünge schaffen. Aber es gelang ihm nicht.

Hindernisse und Barrieren auch für andere abbauen

Er war nicht der erste, der sich bei "Wetten, dass..?" mit einer lebensgefährlichen Aktion ins Gespräch brachte. Danijel Peric wurde am März 2009 bekannt damit, dass er 15 Autos über seine trainierten Bauchmuskeln fahren ließ und dabei "O Sole Mio" sang. Seine Mutter, die in der ersten Reihe saß und nicht gewusst hatte, welche Wette ihr Sohn eingehen wollte, fiel ihm schluchzend um den Hals, als er unversehrt wieder aufstand. 77 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer wählten Peric und seine Muskeln zum Wettkönig.

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Peric hatte Glück. Samuel Koch nicht. Beide wurden über Nacht berühmt.

Aber die Berühmtheit von Samuel Koch irritiert manche Menschen, die mit Behinderungen geboren wurden oder ohne eigenes Zutun behindert wurden. Weshalb wird ein junger Mann, der aus Ehrgeiz nach Fernsehruhm strebte, zum Helden gemacht - in viel größerem Maße, als wenn er seine Wette gewonnen hätte? Ist er das Vorbild dafür, wie behinderte Menschen ihr Leben bewältigen?

Es gibt zahllose Menschen, deren Geschichten nicht so lang und so laut erzählt werden wie die von Samuel Koch. Und dennoch haben diese Frauen und Männer mit schweren Handicaps nicht nur ihr eigenes Leben gemeistert, sondern auch das Leben anderer Menschen leichter gemacht. Sie haben Hindernisse und Barrieren abgebaut - und damit Barrierefreiheit und Inklusion zu einem Teil der Lebenswirklichkeit vieler anderer Menschen gemacht. Ohne Einschaltquoten. Vier Beispiele.

Vom höhenverstellbaren Rednerpult zum Antidiskriminierungsgesetz

Marita Boos-Waidosch wurde 1953 geboren und erkrankte mit zwei Jahren an Kinderlähmung. Trotz Fehlens einer geeigneten Toilette nahm die Rollstuhl-Nutzerin nach dem Handelsschulabschluss eine Stelle als Sparkassenangestellte in Cochem-Zell an der Mosel an. "Weil ich gern arbeiten wollte, trank ich tagsüber so wenig, dass ich nicht zur Toilette musste", erzählt sie. Bereits am Arbeitsplatz setzte sich die Rollstuhlfahrerin für die Beschäftigung weiterer Menschen mit Behinderungen ein, nach acht Jahren erreichte sie schließlich den Einbau einer Behinderten-Toilette. Das Geld dafür zahlte das Integrationsamt aus der Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber, die nicht die vorgeschriebene Zahl an schwerbehinderten Menschen einstellen. Heute freut sich die mit einem nicht behinderten Volkswirt verheiratete Mutter einer Tochter, dass ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Mainzer Behindertenbeauftragte seit 1993 die Rheinland-Pfalz-Metropole zu einer der barrierefreiesten Städte in Europa gemacht hat.

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Durch einen Unfall wurde Horst Frehe 1966 querschnittsgelähmt. Er wurde Jurist und von 1987 bis 1990 für die Grünen in die Bremer Bürgerschaft gewählt. Damals forderte er ein höhenverstellbares Rednerpult, von dem auch der über zwei Meter große Senator und spätere Bürgermeister Henning Scherf profitierte. Frehe hatte sich schon vorher für den Barrierenabbau eingesetzt und immer wieder für Rampen in öffentlichen Gebäuden, für Ampelanlagen mit akustischen Signalen und Leitstreifen für blinde Menschen zu den Unterführungen geworben.

Frehe wurde 2003 mit der Leitung der nationalen Koordinierungsstelle des "Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen" betraut. Bei einem Gespräch mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder beharrte  die damalige Justizministerin Brigitte Zypries auf dem Standpunkt, in das geplante Antidiskriminierungsgesetz nur die EU-Vorgaben Geschlecht, Rasse und Herkunft aufzunehmen. Frehe: "Dann werden zwar meine dunkelhäutigen Freunde nicht mehr von Türstehern der Diskotheken zurückgewiesen. Aber mich werden sie nicht hineinlassen, weil sie den Anblick eines Rollstuhlfahrers den Gästen nicht zumuten wollen und das nicht als verbotene Diskriminierung gilt." Kanzler Schröder stimmte zu: "Es leuchtet mir ein, Brigitte, da muss auch die Behinderung in das Antidiskriminierungsgesetz."

17 Jahre nach seinem Ausscheiden als erster Abgeordneter im Rollstuhl in einem deutschen Landesparlament zog Horst Frehe 2007 für die Grünen erneut in die Bremer Bürgerschaft ein.

"Aus dem Kinderwagen in den Rollstuhl"

Horst Frehe ist außerdem einer der Gründer des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, dessen Mitglieder am Entwurf des Behindertengleichstellungsgesetzes von 2002 beteiligt waren. Er schuf den Zusammenschluss gemeinsam mit den Kasseler Richtern Andreas und Gunter Jürgens - beide sitzen wegen der Glasknochen-Krankheit im Rollstuhl - und der ohne Hände und Arme aufgewachsenen Juristin Theresia Degener.

Andreas Jürgens, wie sein Bruder Gunter nur 1,50 Meter groß, wurde bei der Landtagswahl 2003 für die Grünen in den Hessischen Landtag gewählt und war ihr rechts- und behindertenpolitischer Sprecher. "Ich bin aus dem Kinderwagen gleich in den Rollstuhl umgestiegen, da müssen Sie mir hier schon die Wege ebnen", scherzte er beim Landtagsdirektor.

Jürgens zeigte die Barrieren für Behinderte im hessischen Parlament auf: Im Landtagsgebäude mit seinen zahlreichen Ebenen und Treppen standen Rollstuhlfahrer wie er öfter vor kaum überwindbaren Hindernissen, der nächste Fahrstuhl war nur über Umwege erreichbar. Um ihm die Arbeit zu erleichtern, wurden Umbauarbeiten im treppenreichen Gebäudekomplex vorgenommen. Davon profitieren nun alle gehandicapten Besucherinnen und Besucher des Landtages.

Nicht nur den eigenen Alltag meistern

Am 13. Dezember 2006 hatte Theresia Degener einen besonderen Grund zur Freude: Die UN-Mitgliederversammlung beschloss mit großer Mehrheit die Konvention zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderung. Als eine der deutschen Vertreterinnen hatte die promovierte Juristin in dem Sonderausschuss der Vereinten Nationen wesentlich zum Entstehen der Konvention beigetragen. Heute kontrolliert die Professorin an der evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe im Monitoringausschuss der UNO in Genf die weltweite Umsetzung der Konvention. Sie ist mit einem nicht behinderten Mann verheiratet und  Mutter zweier Kinder.

Sie und viele andere haben nicht nur gezeigt, wie der eigene Alltag als behinderter Mensch zu bewältigen ist. Sie sind auch Vorbilder dafür, wie das Engagement des Einzelnen das Leben Vieler erleichtern kann. Ein Vorbild, wie Samuel Koch es noch werden kann - vielleicht gerade in der Öffentlichkeit des Kirchentages.