Filmkritik zu "Was bleibt": Jeder Satz sitzt genau

Foto: dpa/Pandora Filmverleih
Lars Eidinger als Marko in dem Drama "Was bleibt".
Filmkritik zu "Was bleibt": Jeder Satz sitzt genau
Gerade als Brigitte (Corinna Harfouch) beschließt, nach 30 Jahren ihre Antidepressiva abzusetzen und neu anzufangen, gerät das Leben der beiden Söhne aus den Fugen. Und Brigittes Mann Günther (Ernst Stötzner) hatte gerade andere Pläne, als die Ehe zu retten. Der Film läuft ab heute (6. September) im Kino.
06.09.2012
Martin Schwickert

Freudestrahlend verkündet Gitte (Corinna Harfouch) vor dem Essen ihren Beschluss und schaut danach in die erstarrten Gesichter ihres Ehemannes und der beiden erwachsenen Söhne. Gitte und ihre Krankheit feiern mittlerweile ihr dreißigjähriges Jubiläum und schon seit ein paar Wochen hat die chronisch depressive Mutter ihre Medikamente abgesetzt. Sie will genauso wie ihr Mann Günther (Ernst Stötzner), der gerade seinen Verlag verkauft hat, einen neuen Lebensabschnitt beginnen und wieder als ernst zu nehmendes Mitglied in die Familie aufgenommen werden.

Corinna Harfouch als Gitte in dem Drama "Was bleibt". Foto: dpa/Pandora Filmverleih

Aber von den Männern am Tisch will keiner wirklich darauf anstoßen. Günther hatte andere Pläne. Er wollte mit dem Ende der Verlegerkarriere endlich sein eigenes Buch über die Assyrer voranbringen. Die Flüge zur Recherchereise nach Nahost sind schon gebucht und eine instabile Ehefrau zu Hause ist das letzte, was der agile Mittsechziger gebrauchen kann. "Ich habe mein Leben in diese Ehe investiert" sagt er zu seinem älteren Sohn Marco (Lars Eidinger) und nun will er nicht mehr länger auf die Rendite warten.

Die Familie gerät aus dem Gleichgewicht

Der mäßig erfolgreiche Schriftsteller Marco ist mit seinem kleinen Sohn Zowie aus Berlin ins schmucke Eigenheim der Eltern in der westdeutschen Provinz angereist. Dass die Mutter seines Kindes sich von ihm getrennt hat, verschweigt er seinen Eltern schon mehr als ein halbes Jahr. Gittes Krankheit hat die Struktur der Familie stark geprägt. Die jahrzehntelange Angst, der Mutter bestimmte Wahrheiten nicht zumuten zu können, hat zu einer Kultur des Verschwiegenheit geführt. Genauso wie Marco nichts von seiner Trennung erzählt, verheimlicht Jakob (Sebastian Zimmler), dass seine Zahnarztpraxis, die der Vater ihm samt geräumigen Wohnhaus ein paar Straßen weiter hingebaut hat, einfach nicht in die Gänge kommt.

Während die Mutter ganz gut ohne Medikamente zurecht zu kommen scheint, gerät der Rest der Familie zunehmend aus dem emotionalen Gleichgewicht. Hans Christian Schmid "("23"/"Sturm") gehört zu den Präzisionshandwerkern des deutschen Kinos und hat seinen neuen Film "Was bleibt" als familiäre Zerfallstudie angelegt. Nicht als kühler Analytiker, sondern als Anteil nehmender Beobachter dringt er Schicht für Schicht in die Strukturen des gehobenen, westdeutschen Mittelstandes vor.

Höchste emotionale Genauigkeit

Vater Günther gehört zur Nachkriegsgeneration der Macher, die nie gezwungen waren, das eigene Sein zu hinterfragen, und den Söhnen, denen es nicht gelingen will, eine eigene Existenz aufzubauen, greift er nur zu gern unter die Arme. Auch zwischen den Brüdern – dem nach Berlin geflüchteten und dem daheim gebliebenen – tun sich tiefe Gräben auf. Wie Schmid mit höchster emotionaler Genauigkeit die Konfliktlinien in der Familienaufstellung bis in die feinsten Verästelungen abtastet – das ist ganz großes Kino auf engstem Raum.

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An den Dialogen ist kein Gramm zuviel. Jeder Satz sitzt so genau, dass man sich keine anderen Worte vorstellen kann. Die Ausstattung für die Sphäre des wohl saturierten Bürgertums ist sorgfältig ausgewählt und nie plakativ. Die Kamera von Bogumil Godfrejów hält die richtige Balance zwischen intimer Nähe und analytischer Distanz.

Und natürlich das erstklassige Ensemble: Corinna Harfouch arbeitet die Wahrheitsmomente ihrer Figur kristallklar heraus, Ernst Stötzner verrät den Vater nie ans Patriarchenklischee, Lars Eidinger nimmt das Publikum mit wunderbarer Zurückhaltung auf der Wanderung durch den Familiendschungel bei der Hand und Sebastian Zimmler in der Rolle des scheiternden Richtigmachers eine echte Entdeckung.