Wenn Zeycan Celebi (48) einen Klienten zu Hause besucht, zieht sie immer erst die Schuhe aus. Danach küsst sie ihm die Wangen, wie man das in der Türkei macht, wenn man einen Bekannten begrüßt, anschließend hält sie einen Schwatz - auf Türkisch. "Wenn Türken sich besuchen, herrscht menschliche Wärme. Darauf achten auch wir", sagt sie.
So lasse sich die Pflege leichter aushalten, finden Nebayat Gül (68) und ihr Mann Ramazan (71), den Celebi regelmäßig pflegt. "Bei einem Deutschen hätten wir Angst, dass er die Schuhe nicht auszieht. Außerdem haben wir Probleme mit der Sprache", sagt sie - und Celebi übersetzt.
Im Ramadan kommen Medikamente vor Sonnenaufgang
Celebi ist Angestellte beim "Interkulturellen Pflegedienst Can" in Stuttgart. Zwar werden auch hier pflegebedürftige Menschen gewaschen und angezogen, aber Mitarbeiter und Klienten sind zum allergrößten Teil Menschen mit Migrationshintergrund. Die meisten der zehn Angestellten und 140 Kunden stammen aus der Türkei, aber auch Einwanderer aus anderen muslimischen Ländern sind dabei.
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"Viele unserer Klienten fühlen sich heimatlos. Die intensiven familiären Strukturen aus der Türkei sind etwas verloren gegangen", berichtet Kenan Can (30), Leiter und Gründer des Dienstes: "Dieses Gefühl wollen wir ihnen ein wenig zurückgeben." Das funktioniert etwa, indem die Mitarbeiter ihre Klienten nicht mit "Herr" oder "Frau" anreden, sondern mit "Onkel" oder "Tante", wie es in vielen islamisch geprägten Ländern Tradition ist.
Während des Fastenmonats Ramadan bekommen besonders gläubige Patienten ihre Medikamente noch vor Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang ausgeliefert. Andere möchten aus dem Koran rezitiert bekommen. Es geht sehr viel um Religion, sagt Can, selbst gläubiger Muslim: "Je älter unsere Klienten werden, desto näher kommen sie zu Gott. Sie haben das Bedürfnis, sich mit ihm auseinanderzusetzen und wir dienen ihrem Verlangen."
Auslöser war der Pflegenotstand unter Migranten
Bevor Can 2009 sein Unternehmen gründete, arbeitete er lange Jahre als Alten- und Krankenpfleger. Eines Tages gab ihm sein Bruder, der bei einer türkischen Zeitung arbeitete, den Tipp, es doch selbst mit einem Pflegedienst für seine Landsleute zu versuchen - eines der Themen in der Zeitung war seinerzeit der Pflegenotstand für Türken in Deutschland.
Dass Can in Stuttgart gelandet ist, ist das Ergebnis seiner eigenen der Marktanalyse: Mehr als 23.000 Migranten über 65 Jahre lebten nach Daten des Statistischen Landesamtes in der Stadt. Und am Standort der Autoindustrie dürften viele von ihnen Arbeiter mit wenig Sprachkenntnissen und vielen körperlichen Gebrechen sein: Hier würde man einen solchen Dienst brauchen.
Mittlerweile hat Can eine Filiale in Heilbronn eröffnet, abgesehen davon gibt es in Baden-Württemberg keinen weiteren interkulturellen Pflegedienst. Auch bundesweit sieht es nicht viel besser aus. Nur in Großstädten wie Hamburg oder Hannover existieren kultursensible Dienste. Auch spezialisierte Altenheime gibt es nur wenige.
"Viele sind absolut unwissend"
Die Chance, flächendeckend zu solchen Einrichtungen zu kommen, ist relativ gering, sagt Yasemin Önel, stellvertretende Bundesvorsitzende und gesundheitspolitische Sprecherin der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD). Es gebe dafür in der Provinz schlicht nicht genügend Migranten.
Deshalb wirbt sie dafür, "eine weitere interkulturelle Öffnung der Regelversorgung anzustreben." Dies könne am besten dadurch geschehen, dass man bei der Personalsuche vermehrt auf Migranten zugehe. "Es wäre hilfreich, wenn die Institutionen aus dem Pflege- und Gesundheitswesen mit Vereinen oder mit Gemeinden zusammenarbeiten, um die Angebote und Möglichkeiten bekannter zu machen", sagt Önel.
Kenan Can und seine Mitarbeiter gehen regelmäßig in Moscheen oder türkische Kulturvereine. Dort erklären sie den Landsleuten, was es mit den Abzügen auf sich hat, die sie ihr ganzes Leben auf dem Lohnzettel vorgefunden haben. Dass sie Anspruch auf Gelder der Pflegeversicherung haben, sei oft nicht bekannt: "Viele sind absolut unwissend."