Libyen: "Diese Wahlen sind ein Wunder"

Foto: dpa/Amel Pain
Unterstützer der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, des politischen Arms der Muslimbrüder in Libyen.
Libyen: "Diese Wahlen sind ein Wunder"
Die Straßen von Tripolis sind bunt und fröhlich. Die Libyer freuen sich darauf, am Samstag zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu wählen. Die Revolution hat ihnen Freiheit gebracht, aber auch Fundamentalisten gestärkt.
07.07.2012
epd
Julia Gerlach

Von Postern und Fahnen lächeln Hunderte von Kandidaten. "Das ist toll", sagt die 35-jährige Libyerin Hagir al-Kaid. "Früher hing Tripolis auch voller Poster, doch zeigten sie alle einen Mann: Muammar al-Gaddafi." Die Zahnärztin und Mutter von vier Kindern fühlt sich in einer neuen Zeit angekommen. Sie kandidiert selbst für die "Allianz der Nationalen Kräfte".

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In ihrem Wahlkampfbüro in der libyschen Hauptstadt stapeln sich Plakate. Al-Kaid kandidiert im Wahlkreis Suk al-Gumaa. Das ist da, wo die Revolution in Tripolis begann. Sie gehört zu einer Familie, die seit Generationen Widerstand gegen Gaddafi geleistet hat: "Mein Vater war politischer Gefangener und wurde 1996 bei dem großen Massaker im Gefängnis von Abu Slim umgebracht. Das hat mich zur Politik gebracht", sagt die Kandidatin. Mehrere ihrer Brüder haben im vergangenen Jahr mitgekämpft, ihr Haus diente Revolutionären als Unterschlupf.

"Der radikale Islam hat an Einfluss gewonnen"

Der Stadtteil Suk al-Gumaa spielt auch im Wahlkampf eine besondere Rolle: Al-Kaids stärkster Konkurrent ist Abdel Hakim Belhadsch. Früher kämpfte er mit den Mudschaheddin in Afghanistan, dann wurde er Milizenführer in Libyen, eroberte Tripolis mit und war bis vor kurzem Militärkommandant der Stadt. Kürzlich wechselte er in die Politik. An vielen Fassaden des Mittelstandsviertels hängen riesige Plakate mit dem Porträt des bärtigen Mannes.

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"Der radikale Islam hat seit der Revolution an Einfluss gewonnen", sagt die Kandidatin Al-Kaid. Sie versteht sich selbst als gläubige Muslimin, ist mit langem schwarzen Mantel und Kopftuch eher konservativ gekleidet. Zugleich hält sie aber nichts davon, anderen Leuten Vorschriften zu machen, wie sie leben und glauben sollen.

Die Revolution brachte den Libyern Freiheit, stärkte allerdings auch Kräfte, die streng islamische Regeln durchsetzen wollen. "Ich finde schon, dass wir mehr Freiheit haben, ich durfte vor der Revolution zum Beispiel nicht allein oder mit einer Freundin ins Café gehen", sagt eine junge Frau, die zu Al-Kaids Wahlkampfteam gehört. Sie trägt ein knallbuntes Kopftuch und viel Make-up. Ihre Kollegin wiegt nachdenklich den Kopf. Immerhin gab es in den vergangenen Monaten häufiger Angriffe radikaler Muslime auf lässig gekleidete Frauen und Liebespaare.

130 neu gegründete Parteien

Wohin Libyen sich entwickelt, und welche Rolle der Islam künftig spielen soll - die Weichen dafür werden bei den Wahlen am Samstag gestellt. Kandidatin Al-Kaid wünscht sich jedenfalls ein eher weltoffenes Land: "Ich habe mich der Partei von Mahmoud Jibril angeschlossen, weil dies eine Sammlungsbewegung vieler verschiedener Strömungen ist und Jibril viel Erfahrung in der Politik und internationales Ansehen hat", sagt sie.

Jibril war unter Gaddafi Leiter des Fonds für Wirtschaftsentwicklung, brach kurz nach Ausbruch des Bürgerkriegs mit dem Regime und leitete von März bis Oktober 2011 den Nationalen Übergangsrat. Dabei warb er vor allem im Ausland für den Widerstand gegen Gaddafi.

Insgesamt stellen sich 130 Parteien zur Wahl. Sie sind alle neu gegründet, denn unter Gaddafi waren Parteien verboten. Das libysche Wahlsystem ist kompliziert: 80 Sitze werden über Parteilisten vergeben, die restlichen 120 Sitze an unabhängige Kandidaten. Auf den Parteilisten stehen fast ebenso viele Frauen wie Männer, so will es das Gesetz. Bei den Unabhängigen sind unter mehr als 2.000 Kandidaten nur 84 Frauen. Die Rolle der Frauen in der Politik ist umstritten: Zahlreiche Wahlplakate von Kandidatinnen wurden zerstört, die Gesichter herausgeschnitten oder übermalt.

"Eine unglaubliche Leistung der Libyer"

Überschattet wurde der Wahlkampf auch von Gewalt: In Bengasi zündeten Demonstranten ein Wahlbüro an, Stimmzettel und Urnen gingen in Flammen auf. Im Osten fühlen sich die Menschen benachteiligt, weil in der Nationalversammlung nur 60 Sitze an den Osten, 40 an den Süden, aber 100 an den Westen vergeben werden. Manche Libyer befürchten, dass Ausschreitungen die Wahlen verhindern könnten, und bilden deshalb Menschenketten um die Wahlbüros in Bengasi.

"Insgesamt sind diese Wahlen ein Wunder", resümiert Radhia Achouri, Sprecherin der UN-Mission in Libyen. "Wenn man sich überlegt, dass Gaddafi erst vor einem guten halben Jahr getötet wurde und bis dahin gekämpft wurde, ist es eine unglaubliche Leistung der Libyer, dass diese Wahlen jetzt stattfinden können."