Gedenken an NS-Patientenmorde an historischem Ort

Gedenken an NS-Patientenmorde an historischem Ort
«Aktion T4» startete kurz nach Überfall auf Polen im Oktober 1939
Die Tötung von psychisch Kranken und sozial Auffälligen durch die Nazis war in Deutschland lange kein Thema. Erst seit fünf Jahren gibt es einen Gedenkort für die Opfer.

Berlin (epd). Mit Gedenkveranstaltungen ist am Freitag in Berlin an die europaweit rund 300.000 Opfer der nationalsozialistischen Patientenmorde erinnert worden. Anlass war der Beginn des sogenannten Euthanasie-Programms der Nazis vor rund 80 Jahren.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sprach in der Berliner Philharmonie von einem Menschheitsverbrechen, das nicht vergessen werde dürfe. Er forderte dazu auf, nicht wegzuschauen, wenn heute Bevölkerungsgruppen verächtlicht gemacht und an den Rand gedrängt werden. Demokratie brauche Inklusion, betonte der Behindertenbeauftragte.

Der Gedenk- und Informationsort für die ermordeten Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten neben der Philharmonie besteht seit nunmehr fünf Jahren. Die Planungs- und Verwaltungszentrale des sogenannten Euthanasie-Programms befand sich ab April 1940 in der Tiergartenstraße 4, wo heute die Philharmonie steht. Nach dem Standort wurde das Programm "Aktion T4" genannt. Dort organisierten Ärzte und Verwaltungspersonal die Erfassung der Patienten sowie deren Transport in sechs eigens dafür hergerichteten Anstalten im Deutschen Reich.

Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) erinnerte in der Philharmonie daran, dass das "Euthanasie"-Programm das erste systematische Massenverbrechen des NS-Regimes war: "Hier haben die Nazis ausgetestet, wie weit sie gehen können." Lederer betonte, die Verantwortung für diese Verbrechen bedeute heute eine Verpflichtung, "jedwede Ausgrenzung vermeintlich Anderer - auch die verbale - zu bekämpfen". Allein aus der Heil- und Pflegeanstalt in Berlin-Buch seien die 2.800 Insassen größtenteils in den Gaskammern der Anstalten in Brandenburg an der Havel und in Bernburg ermordet worden.

Der offizielle Beginn der Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen begann Mitte Oktober 1939 in Polen. Die zu dieser Zeit von Adolf Hitler erlassene Anordnung zur Ausrottung sogenannten lebensunwerten Lebens wurde den Angaben zufolge aber von den Nazis auf den 1. September 1939 zurückdatiert.

Auf dem Boden des Deutschen Reiches wurden bis zum offiziellen Ende der "Aktion T4" 1941 mehr als 70.000 Menschen in den sechs Anstalten vor allem mit Gas umgebracht, heißt es bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 stieg die Zahl der getöteten Patienten im Deutschen Reich auf rund 220.000. Die meisten verhungerten langsam auf Grund einer bewusst verabreichten Mangelernährung, wurden durch Medikamente getötet oder erschossen. Die Forschung geht derzeit von insgesamt rund 300.000 Opfern in Europa aus. Allerdings liegen verlässliche Zahlen insbesondere für Osteuropa noch nicht vor.

Bei einem Gedenkgottesdienst in der St. Matthäus-Kirche gegenüber der Philharmonie erinnerten am Freitag Christen und Juden an den 80. Jahrestag des Beginns der "Aktion T4". Der evangelische Bischof Markus Dröge erklärte: "Fassungslos stehen wir vor den Gräueln, die Menschen an Menschen verübt haben." Dabei erinnerte er daran, dass auch Christen an der Ermordung von Patienten beteiligt waren. Weiter sprach sich Dröge für eine "gleichberechtigte Teilhabe" aller Menschen mit und ohne Behinderung an der Gesellschaft aus. An dem Gedenken nahmen auch Rabbiner Andreas Nachama teil.