Versöhnung und Neuanfang: Libyens Rebellen sind optimistisch

Versöhnung und Neuanfang: Libyens Rebellen sind optimistisch
In Tunesien und Ägypten haben die Revolutionäre festgestellt, dass es für einen politischen Neuanfang nicht ausreicht, einen korrupten Herrscher in die Wüste zu schicken. Die Führung der libyschen Rebellen will aus den Fehlern der Nachbarn lernen. Und die Übergangsregierung muss die humanitären Probleme in ihrem Land in den Griff bekommen.
29.08.2011
Von Anne-Beatrice Clasmann

"Gehe mit erhobenem Haupt, denn du bist ein freier Libyer!", rufen die jungen Männer von Tripolis einander zu, wenn sie nachts im Autokorso durch die Straßen ihrer Stadt fahren, um sich an ihren "Sieg" über Muammar al-Gaddafi zu berauschen. Viele von ihnen beginnen erst jetzt - eine Woche nach dem Aufstand in der Hauptstadt - zu verstehen, dass die Ära des herrschsüchtigen Obristen, der sich "König der Könige von Afrika" nennen ließ, wirklich vorbei ist. Die politische Führung der Aufständischen - der Übergangsrat in Bengasi und die ihm untergeordnete Übergangsregierung, die zum Teil schon nach Tripolis umgezogen ist - ist dagegen schon einen Schritt weiter.

Neben der Suche nach dem abgetauchten Gaddafi und den Bemühungen, die zwei Millionen Einwohner von Tripolis mit Wasser, Strom und Lebensmitteln zu versorgen, arbeiten der Ratsvorsitzende Mustafa Abdul Dschalil und seine Mitstreiter schon intensiv an einer Vision für ein neues Libyen. Ein demokratischer Staat nach westlichem Vorbild wird dabei nach Einschätzung ausländischer Beobachter vor Ort am Ende sicher nicht herauskommen. Auch die Korruption dürfte nicht von heute auf morgen verschwinden. Doch die meisten Menschen in Bengasi und Tripolis glauben, dass es ihnen gelingen wird, einen Staat zu erschaffen, in dem Meinungsfreiheit herrscht und in dem die Bürger in Würde leben können.

"Keine Plünderungen, keine Selbstjustiz"

Tatsächlich muss sich Libyen komplett neu erfinden. Denn abgesehen vom Öl-Ministerium und einigen staatlichen Firmen hatte Gaddafi über ein Land ohne Institutionen geherrscht. Eine Verfassung gibt es nicht. Parteien waren verboten. Das Justizwesen war primär dazu da, Menschen, die Gaddafi und seinen Günstlingen in die Quere kam, hinter Gitter zu bringen. Manchmal umging man die Justiz auch und sperrte die mutmaßlichen Regimegegner ohne Urteil ein, setzte sie unter Hausarrest oder ließ sie gleich ermorden.

Der Übergangsrat und die Tausenden von jungen Helfern, die sich freiwillig gemeldet haben, um als Kämpfer, Sanitäter, Feldköche, Fahrer oder Pressesprecher für das "freie Libyen" zu arbeiten, sind euphorisch. Um ihren Traum von einem neuen Staat nicht zu gefährden, rufen sie ihre Landsleute zur Selbstbeherrschung auf. Ihr Motto lautet: "Keine Plünderungen und keine Selbstjustiz." Doch ihr Aufruf stößt bei einigen Libyern auf taube Ohren. Zahlreiche Häuser von Funktionären des Regimes wurden in den vergangenen Tagen leergeräumt.

Einige Angehörige der von Gaddafi geschaffenen "Revolutionskomitees" wurden getötet. Die Kommandeure der Rebellen und Innenminister Ahmed Hussein al-Dharrat sprechen von bedauerlichen Einzelfällen. Fragt man die Kämpfer auf den Straßen, so bekommt man zu hören, diese Racheakte seien nicht von den Revolutionären verübt worden, sondern von Menschen aus der Nachbarschaft, die eine "persönliche Rechnung" mit den Funktionären offen gehabt hätten.

Der Islam als Kitt, der Libyen zusammenhält?

"Wir haben in unserem Viertel auf die Leute eingeredet und sie davon überzeugt, dass sie das Haus von Al-Mahdi Kanna nicht leerräumen und in Brand setzen dürfen, obwohl dieser Kommandeur den Menschen in der Stadt Al-Sintan Schreckliches angetan hat. Er hat die Stadt mit Grad-Raketen beschießen lassen und 22 Frauen verschleppt, die nackt in einen Wasserspeicher gesperrt wurden. Doch wir haben ihnen gesagt, dass auch dieses Haus nicht geplündert werden darf. Zuletzt sind wir alle zusammen in die Villa hineingegangen und haben nur die Bilder zerstört, auf denen Al-Kanna zusammen mit Gaddafi zu sehen war", erklärt Hossam Zagaar, ein Marketingmanager aus Al-Andalus einem bürgerlichen Küstenvorort von Tripolis. "Ich bin optimistisch, was die Zukunft unseres Landes angeht, auch auf der politischen Ebene", sagt Zagaar.

Doch auch wenn die Aufständischen Frieden und Versöhnung erreichen sollten, bleiben zwei Fragen offen: Welche Rolle werden die vor allem außerhalb von Tripolis mächtigen Stämme spielen? Und welche Rolle wird die Religion künftig spielen? Gaddafi wusste virtuos auf der Klaviatur der Stammesrivalitäten zu spielen - doch für die junge Generation, die für diese Revolution große Opfer gebracht hat, spielen Weltanschauung, Familienbande, Religion und Freundschaften oft eine größere Rolle als die traditionellen Stammesverbände.

Der Islam wird in Libyen, wo viele Menschen sehr fromm sind, künftig vielleicht eine wichtigere Rolle spielen als bisher. "Der Islam ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält", erklärt ein Student, der seit fünf Monaten in einer Rebelleneinheit kämpft. Der politische Islam, wie man ihn aus Ägypten, Kuwait und anderen arabischen Ländern kennt, fehlt in Libyen dagegen schon deshalb, weil Gaddafi keine politischen Organisationen erlaubte.

Gaddafi ist noch immer auf der Flucht

Militante Islamisten finden sich in kleiner Zahl in den Rebelleneinheiten aus der östlichen Stadt Derna, aus der in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch junge Männer ausgezogen waren, um sich Terrorgruppen im Irak und anderswo anzuschließen. Doch die Zahl der smarten Geschäftsleute, Ärzte, Studenten und Ingenieure, die seit Februar ihr bequemes Leben in den USA oder in England aufgegeben haben, um Gaddafi zu stürzen und ihr Land zu modernisieren, dürfte weitaus größer sein.

Ihre Hilfe wird gebraucht. Denn der libysche Übergangsrat räumte knapp eine Woche nach dem Fall von Tripolis erstmals eine humanitäre Krise in der Hauptstadt ein. Der Sprecher des Rates, Schamsiddin Ben Ali, forderte deshalb am Sonntag alle im Ausland arbeitenden libyschen Ärzte auf, sofort in ihre Heimat zurückzukehren. Es fehlt an Medikamenten und medizinischen Geräten. Die Übergangsregierung hat die Wasserversorgung noch nicht wieder hergestellt, der Strom läuft auch nicht zuverlässig. Auch Lebensmittel und Treibstoff werden in Tripolis immer teurer.

Und zu allem Überfluss ist Gaddafi noch immer nicht gefasst. Der Übergangsregierung steht eine harte Zeit bevor, bis in Libyen wieder halbwegs normale Zustände einkehren.

dpa