"Alkohol und Zigaretten gehören nicht zum Lebensminimum"

"Alkohol und Zigaretten gehören nicht zum Lebensminimum"
Die Filmemacherin Rita Knobel-Ulrich hat für ihre Fernsehdokumentationen Hartz-IV-Familien besucht. Die Erhöhung des Regelsatzes um fünf Euro findet sie in Ordnung.Geld für soziale Leistungen müsse auch erwirtschaftet werden, sagt sie im Interview mit evangelisch.de. Das System müsse aber stärker differenzieren. Es sei ungerecht, dass auch Menschen, die lange hart gearbeitet hätten, den Regelsatz plus Warmmiete bekämen.
27.09.2010
Die Fragen stellte Henrik Schmitz

Der Hartz-IV-Regelsatz soll um fünf Euro erhöht werden. Sozialverbände sprechen von einer Enttäuschung. Sind Sie auch enttäuscht?

Rita Knobel-Ulrich: Nein, ich finde diese maßvolle Erhöhung in Ordnung. Die Festsetzung des Regelsatzes ist aus meiner Sicht nachvollziehbar, weil sie sich an den niedrigen Einkommen orientiert hat. In der Diskussion wird oft auch nicht unterschieden zwischen dem, was vielleicht wünschenswert ist und dem, was leistbar ist. Jeder wünscht sich doch 50 oder 100 Euro mehr, jeder möchte mehr Geld haben. Aber wer höhere Sätze fordert, muss bedenken, dass das Geld von der Allgemeinheit erwirtschaftet werden muss. Und der Regelsatz darf nicht so hoch sein, dass die Menschen keine Anreize mehr haben, Arbeit anzunehmen. Ich kenne Leute, die mir cool vorgerechnet haben, dass sie nur 100 oder 200 Euro mehr bekommen, wenn sie arbeiten und dann gesagt haben, dafür stünden sie nicht morgens um sechs Uhr auf. Das darf nicht sein und deshalb sind fünf Euro mehr absolut OK.

Sie haben sich in ihren Fernsehdokumentationen mit der Lebenswelt von Hartz-IV-Empfängern auseinandergesetzt. Aber das können doch nicht nur Menschen sein, die einfach nicht arbeiten wollen?

Knobel-Ulrich: Es gibt eine riesige Bandbreite. Es gibt zum Beispiel Hartz-IV-Empfänger, die 30 bis 35 Jahre lang gearbeitet haben und dann ist einfach ihre Firma pleite gegangen. Oder ein Unternehmen wie Nokia sagt nonchalant "Wir verlegen unsere Produktion ins Ausland" und dann ist auf einmal eine ganze Region arbeitslos, die von einer solchen Firma abhängig ist. Das trifft dann Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und wenn die nach zwei Jahren in Hartz-IV fallen, ist das eine schiere Katastrophe. Oder die Gruppe gut ausgebildeter alleinerziehender Frauen mit Berufen ohne geregelte Arbeitszeiten. Etwa Krankenschwestern oder Verkäuferinnen, die beim Bewerbungsgespräch gefragt werden "Und was machst Du mit Deinen Kindern" und dann keine Stelle bekommen. Wenn dann die Oma nicht vor Ort ist oder die Kita um 17 Uhr schließt sind solche Frauen zehn bis 15 Jahre von Hartz-IV abhängig. Das kann eigentlich nicht sein. Es gibt aber eben auch die, die keinen Schulabschluss haben, nach einem Jahr die Lehre abbrechen, den ganzen Tag zu Hause vor der Röhre sitzen und ihren Kindern vermitteln, dass man sich ein ganzes Leben lang vom Staat alimentieren lassen kann. Das kann eben auch nicht sein.

Verstehe ich das so, dass Sie zwar den Regelsatz an sich, nicht aber das Hartz-IV-System insgesamt gerecht finden?

Knobel-Ulrich: Ich finde jedenfalls ungerecht, dass diese 364 Euro plus Warmmiete gleichmäßig über diese drei Gruppen von Hartz-IV-Empfängern verstreut werden, anstatt sich ganz anzugucken, wer was am meisten braucht. Dem einen ist vielleicht mit einem Gutscheinsystem und einem genauen Finanzplan am besten gedient, der andere brauch etwas mehr Druck und die Drohung "Beweg Dich, sonst bekommst Du gar nichts mehr". Und ein anderer müsste eigentlich viel länger das Arbeitslosengeld I bekommen, weil er sein Leben lang gearbeitet hat und sich mit 57 Jahren wirklich die Hacken abrennt, um wieder einen Job zu bekommen.

Also werden die echten Probleme gar nicht angefasst?

Knobel-Ulrich: Der Staat tritt bei Hartz-IV auf wie ein Vater, der mit milder Hand seine ihm anvertrauten Kinder versorgt. Dieser "Vater Staat" entspricht nicht meinem Bild eines Staates. Ich finde, der Staat sollte sich so weit wie möglich aus allem raushalten. Jeder Mensch ist für sein Leben selbst verantwortlich und nur, wenn jemand alt oder krank oder in Not geraten ist, dann muss die Gemeinschaft, also der Steuerzahler, im helfen. Aber nur dann und nicht dann, wenn jemand nicht aus den Puschen kommt. Wir haben ein durchlässiges Bildungssystem, da kann jeder auch mit 25 oder 30 Jahren noch eine Ausbildung oder Umschulung machen. Und wenn das nicht geht, dann muss man ihm energisch sagen können, dass er trotzdem etwas für das Geld tun muss, das er von der Allgemeinheit bekommt. Grünanlagen aufräumen, Gurken ernten oder putzen meinetwegen. Man darf jedenfalls nicht zulassen, dass Menschen ihren Kindern vermitteln, dass man durch Hartz-IV quasi vom Nichtstun leben kann.

Also halten Sie es auch für sinnvoll, den Menschen vorzuschreiben, was sie mit dem Geld tun soll. Kein Alkohol und keine Zigaretten mehr, dafür Gutscheine für Sport- und Musikunterricht?

Knobel-Ulrich: Ich finde, Alkohol und Zigaretten gehören nicht zum Lebensminimum und deshalb hat man es sinnvollerweise herausgerechnet. Ich finde auch die Idee gut, Kinder durch ein Gutscheinsystem dazu zu bringen, bestimmte Angebote anzunehmen, weil ich die Befürchtung habe, dass manche Eltern dazu neigen, das Geld, das eigentlich für ihre Kinder da ist, für den eigenen Konsum zu gebrauchen. Ich habe ein Elternpaar kennengelernt ˆ beide keine Ausbildung, beide leben von Hartz-IV ˆ, die mir sagten, sie hätten so viele Abzahlungsverträge mit diversen Versandhäusern, dass sie zur Zeit mehr oder weniger vom Kindergeld lebten. Und programmgemäß bekam die Frau auch das dritte Kind, als sie aufgefordert wurde, nun endlich mal arbeiten zu gehen. Ich finde ein Gutscheinsystem entspricht doch auch der Tradition der Arbeitervereine, die es früher gegeben hat. Die boten Bildung, Weiterbildung und Kulturveranstaltungen an. Man muss versuchen, durch Bildung diese Hartz-IV-Dynastien aufzubrechen, wo von der Oma bis zum Enkel alle von der staatlichen Hilfe leben.

Gutscheine wären aber ein erheblicher Eingriff in die individuelle Freiheit von Menschen.

Knobel-Ulrich: Ja, ein Gutscheinsystem schränkt die Entscheidungsfreiheit ein und eigentlich finde ich auch, dass jeder Mensch selbst wissen muss, was gut für ihn ist und wie er sein Geld einsetzt. Die Erfahrung ist aber ganz offensichtlich eine andere, zumindest in bestimmten Schichten. Ich habe einmal in einer Suppenküche für Kinder einen Film gedreht und da haben einige Kinder zum ersten Mal festgestellt, dass man Kartoffeln schälen, kochen und essen kann. Und als ich fragte "Wie läuft das denn bei Euch zuhause, kochen Eure Eltern nicht", hat ein Kind gesagt, es bekomme dann ab und zu einen Euro in die Hand gedrückt und hole sich dann die Pommes an der nächsten Bude. Das ist erstens mal teurer, als wenn die Familie selbst kochen würde. Und zweitens zeigt es, dass die Familie offenbar keinen Überblick darüber hat, wie man mit Geld umgeht und was gut für das Kind ist. Dann muss man mit der Familie eben einen Finanzplan erstellen oder ihr Lebensmittelgutscheine geben, damit sie lernen, wie man das Geld einsetzt. Mit einer freien Entscheidung sind manche Menschen leider überfordert. Das gilt natürlich nicht für alle, aber eben doch für einen Teil der Hartz-IV-Empfänger.


Dr. Rita Knobel-Ulrich ist Autorin und Filmemacherin. Für die ARD, das ZDF und die Deutsche Welle hat sie zahlreiche Dokumentationen gedreht. Immer wieder hat sie sich dabei auch mit dem Leben von Hartz-IV-Empfängern befasst, etwa in der Dokumentation "Es ist noch Suppe da" oder "Erntehelfer verzweifelt gesucht".

Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de