TV-Tipp: "INRI – Warum musste Jesus sterben?"

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29. März, ZDF, 22.20 Uhr
TV-Tipp: "INRI – Warum musste Jesus sterben?"
Der aufgestachelte Mob geifert und hetzt. Die Geräusche der Hammerschläge, als die Nägel durch die Handflächen ins Holz getrieben werden, gehen durch Mark und Bein.

Welche Schuld muss dieser Mann auf sich geladen haben, dass er zu einem derart qualvollen Tod am Kreuz verurteilt worden ist, obwohl er im Grunde nichts anderes getan hat als Kranke zu heilen, Hungernde zu speisen sowie Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu predigen? Das ist die Kernfrage des Dokudramas "INRI", so lautet auch der Titelzusatz: "Warum musste Jesus sterben?"

In den folgenden knapp neunzig Minuten rekonstruieren Friedrich Klütsch (Buch) und Christian Twente die letzten Tage im Leben Jesu Christi. Die aufwändigen Spielszenen verzichten konsequent auf jedwede Spekulation und orientieren sich an den wissenschaftlichen Fakten, die von rund einem halben Dutzend Sachverständigen beigesteuert werden. Dem protestantischen Theologen und Archäologen Dieter Vieweger kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn er sitzt nicht nur wie die meisten anderen an einem Schreibtisch, sondern fungiert zudem als Reiseführer zu den historisch verbürgten Orten. Dass Jesus von Nazareth existiert hat, steht dank diverser Quellen außer Zweifel. Unser heutiges Bild basiert jedoch größtenteils auf den Evangelien, und die sind erst Jahrzehnte nach seinem Tod entstanden; ihre Verfasser waren keine Zeitzeugen. Über allem schwebt also eine weitere Frage: Was ist Tatsache, was ist Glaube?

Daraus hätte auch ein schwer zugänglicher Diskurs werden können, doch dank Twentes Umsetzung ist "INRI" auf beiden Ebenen fesselnd, weshalb es umso bedauerlicher ist, dass das "Zweite" den Film erst so spät ausstrahlt: Die Aussagen sind nicht bloß fachkundig, sondern auch für Laien gut nachzuvollziehen, zumal Bibel-Podcasterin und Gerichtsreporterin Sabine Rückert ihre Ausführungen sehr leutselig vorträgt. Die digitalen Rekonstruktionen der historischen Gemäuer sind eindrucksvoll, die Spielszenen haben Fernsehfilmniveau. Anders als etwa in der ZDF-Dokureihe "Terra X" sind sie zudem namhaft besetzt, allen voran mit Stephan Grossmann, der Pontius Pilatus mit einer reizvollen Mischung aus Amüsement und Langeweile versieht: Der römische Präfekt versteht die ganze Aufregung um den vermeintlichen Verbrecher nicht, für ihn ist das eine rein jüdische Angelegenheit; hellhörig wird er erst, als der Hohepriester Kaiphas (Alexander Bayer) den Nazarener als Aufrührer bezeichnet. 

Auch in den Reihen der Anhängerschaft finden sich einige bekannte Gesichter, darunter Laura Berlin als Maria von Magdala sowie Marcus Prisor als Judas. Ihm kommt eine Schlüsselrolle zu, denn in den Beiträgen der Theologen geht es unter anderem um ein Übersetzungsdetail; je nach Sichtweise würde der vermeintliche Verräter plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Abgesehen davon steht für die Sachverständigen ohnehin fest, dass Jesus’ Strategie von vornherein kein anderes Ende als den Tod vorgesehen hat. Rückert zieht eine Linie bis in die Gegenwart zu Alexej Nawalny, der ebenfalls bereit gewesen sei, für seine Ideale zu sterben. Auch Klütsch bringt gegen Ende einen aktuellen Bezug ins Spiel: Wohl nicht zuletzt mit Blick auf den wieder erstarkten Antisemitismus war es ihm offenkundig Anliegen zu verdeutlichen, dass nicht das jüdische Volk, sondern eine Koalition aus jüdischem Establishment und römischen Besatzern Jesus auf dem Gewissen hat. 

Interessant ist auch die Idee, die Jünger als Revoluzzer zu inszenieren. Den Anhängern ist zunächst im Grunde gar nicht klar, worauf sie sich einlassen. Mit dem Einzug in Jerusalem wollen sie die Menschen begeistern, mit der Randale im Tempel ein Zeichen setzen und die Obrigkeit provozieren; doch das Imperium schlägt gnadenlos zurück. Der Prozess gegen Jesus ist zwar eine Farce, aber Twente macht daraus ein Gerichtsdrama. Die Spurensuche sowie die theologischen und historischen Analysen rücken den Film wiederum in die Nähe einer "True Crime"-Dokumentation; diese Genre-Vielfalt ist ebenfalls reizvoll.

Der Regisseur genießt ohnehin hohes Renommee. Mit Klütsch hat er bereits beim Dokudrama "Das Luther-Tribunal" (2017) zusammengearbeitet. Weitere sehenswerte Werke waren "Stunden der Entscheidung" (2019) über die Ereignisse im September 2015, als Angela Merkel die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland einreisen ließ, sowie die gleichfalls fürs ZDF entstandenen ähnlich konzipierten Porträts  "Uli Hoeneß - Der Patriarch" (2015) und "Karl Marx – Der deutsche Prophet" (2018).