Digitales Lernen ab dem zweiten Lebensjahr

Erzieherin mit Kindegartenkindern am Laptop
© Getty Images/iStockphoto/oneblink-cj
Pädagoge Wassilios Fthenakis schlägt im Interview ein einheitliches digitales Bildungssystem vor, das den Schwerpunkt auf den Kindergarten und die Grundschule legt.
Bildung reformieren
Digitales Lernen ab dem zweiten Lebensjahr
Der Pädagoge und Entwicklungspsychologe Wassilios Fthenakis sieht das deutsche Bildungssystem in einem schlechten Zustand. Es bereite die Kinder nur unzureichend auf künftige Herausforderungen vor, sagte der Gründer und langjährige Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der 85-Jährige plädiert dafür, einen einheitlichen Bildungsplan für ganz Deutschland zu entwerfen und mit der digitalen Bildung schon in der Kita zu beginnen. Fthenakis war Gastredner beim Kita-Kongress der Diakonie Niedersachsen in Hannover.

Welches sind die Kompetenzen, die Kindern heutzutage in den Kindertagesstätten vermittelt werden müssten?

Wassilios Fthenakis: Kinder, die heute in der Kita sind, werden nach dem Jahr 2040 ihre Ausbildung beenden und in eine völlig veränderte Welt eintreten. Wir müssen die Kinder so bilden, dass sie über die Kompetenzen verfügen, die dann für sie notwendig sind. Dazu gehören kritisches Denken, Kreativität, Kooperation, Kommunikationskompetenz, Ausdauer, Gewissenhaftigkeit und emotionale Kompetenz. Diese Fähigkeiten werden im heutigen Bildungssystem, wenn überhaupt, nur unzureichend gefördert.

Wie müsste sich eine Kita verändern, damit diese Fähigkeiten gefördert würden?

Fthenakis: Wenn wir das erreichen wollen, reicht es nicht aus, die Kita zu verändern. Wir brauchen eine neue Architektur des Bildungssystems insgesamt, das den Schwerpunkt auf den Kindergarten und die Grundschule legt.
Das heutige Bildungssystem konzentriert sich darauf, dass allein das Kind das lernende Individuum ist. Diese Auffassung ist längst überholt. Stattdessen entstehen neues Wissen und neuer Sinn über den Dialog und den Austausch, über die Kommunikation mit anderen: mit den Eltern, mit Fachkräften, mit Kindern. Das heißt, die Bildung ist nicht ein Individuum-zentrierter Ansatz, sondern ein sozialer Prozess.

Für diesen Prozess brauchen wir ein neues didaktisches Modell. Das ist die Ko-Konstruktion. Das bedeutet, dass Kinder, Fachkräfte und Eltern gemeinsam an der Konstruktion von neuem Wissen arbeiten. Zudem brauchen wir neue Räume, die Interaktion, Austausch, Kommunikation und das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven ermöglichen. Wir müssen die Kitas und Grundschulen entsprechend umbauen. Schließlich müssen wir die analoge mit der digitalen Welt verbinden, also neue Technologien in das Bildungssystem integrieren.

Das klingt sehr grundstürzend. Ist es realistisch, das alles auf den Weg zu bringen?

Fthenakis: Das ist tatsächlich grundstürzend. Aber es gibt keine Alternative. Die Arbeit daran hätte schon vor über 20 Jahren beginnen müssen. Wer das heute nicht tut, versündigt sich an der Zukunft der Kinder. Es gibt kein Pardon, weil das Know-how, die Erfahrung, die Instrumentarien alle im internationalen Rahmen verfügbar sind. Was fehlt, ist der politische Wille und das Verständnis, dass man so nicht weitermachen kann.

Ich plädiere dafür, dass man in jedem Gruppenraum ein Fenster zur Welt installiert

Was würde das Ganze denn kosten?

Fthenakis: Das würde nicht mehr kosten, als wir heute ausgeben. Aber die Gelder würden viel effizienter genutzt.

Wie müsste sich eine Kita konkret verändern? Können sie ein Beispiel nennen?

Fthenakis: Ich nenne ihnen ein Beispiel, das ich selbst beim Besuch in einer Kita erlebt habe. In einem Bilderbuch entdeckte ein Kind eine Schnecke und zeigte sie der Fachkraft. Diese bestätigte, was das Kind, schon selbst wusste: "Ja, du hast Recht, das ist eine Schnecke." Ich ärgerte mich und zeigte dem Kind auf meinem Tablet viele weitere Schnecken. Das Kind war begeistert und ging erneut zu der Fachkraft. Es wollte wissen, warum es unterschiedliche Arten von Schnecken gibt und wo diese leben. Die Fachkraft war total überfordert. Sie hat sich als Wissende und Begleitende verstanden. Aber das ist ein veraltetes Verständnis. Sie hätte sich als Mitlernende und Mitgestaltende auf den Weg machen müssen. Wenn man etwas nicht weiß, sagt man dem Kind: "Komm, wir werden das gemeinsam herausfinden."

Wir können mit der digitalen Technologie den Lebens- und Lernraum für die Kinder massiv erweitern. Ich plädiere dafür, dass man in jedem Gruppenraum ein Fenster zur Welt installiert - also einen Screen, der mit dem Internet verbunden ist und den die Kinder nutzen können.

Experten mahnen seit über 20 Jahren, sowohl die Quantität als auch die Qualität der Fachkräfte zu verbessern - die Politik ist dem nie gefolgt

Das heißt, digitale Kompetenzen müssen schon in der Kita vermittelt werden?

Fthenakis: Spätestens im zweiten Lebensjahr muss damit begonnen werden. Die Kinder haben ohnehin in diesem Alter bereits Zugang zu diesen Geräten. Sie haben auch die Internet-Kultur der Familie internalisiert. Um digitale Technologien in den Kitas nutzen zu können, braucht man allerdings eine funktionierende und gut gewartete Infrastruktur in jeder Einrichtung und einen Bildungsplan, der die digitale Kompetenz in alle Bereiche integriert. Notwendig sind zudem gut professionalisierte Fachkräfte und gut informierte und kooperierende Eltern.

Wie soll das alles angesichts des aktuellen dramatischen Fachkräftemangels in den Kitas funktionieren?

Fthenakis: Wenn die Politik in einem Bereich total versagt hat, ist das der Bereich der Ausbildung von Fachkräften. Alle Experten mahnen seit über 20 Jahren an, sowohl die Quantität als auch die Qualität der Fachkräfte zu verbessern. Die Politik ist dem nie gefolgt. Im Gegenteil. Sie versuchen, über halb ausgebildete Kräfte - Stichwort Seiteneinsteiger - diese Misere zu behandeln.

Aber was ist jetzt zu tun?

Fthenakis: Wir müssen den Föderalismus des Bildungssystems überdenken. Ein Bildungssystem, das mit der Zeit geht, effizient und gerecht ist, braucht eine zentrale Instanz: Diese müsste einen einheitlichen Bildungsplan entwerfen. Wir brauchen nicht 16 Bildungspläne in Deutschland, die so unterschiedlich sind, dass sie de facto unterschiedliche Chancen anbieten.

Auch die Professionalisierung der Fachkräfte, die Finanzierung und die Evaluation müssten zentral gesteuert werden. Alle diese Bereiche sollten mit einem Staatsvertrag für das gesamte Bundesgebiet einheitlich geregelt werden. Die Länder sollten dafür zuständig sein, den Bildungsplan jeweils umzusetzen. Bezüglich der Rahmenbedingungen und innovativer Wege könnten sie in einen Wettbewerb treten.