"Einfach darf sich niemand einen solchen Vereinigungsprozess vorstellen"

Christoph Kähler
© epd-bild/Norbert Neetz
Altbischof Christoph Kähler spricht sich am 100-jährigen Bestehen der evangelischen Kirche in Thüringen für eine Erforschung der "Entnazifizierung" in den evangelischen Landeskirchen aus.
"Einfach darf sich niemand einen solchen Vereinigungsprozess vorstellen"
100 Jahre Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen
Am Sonntag (8. November) feiert die evangelische Kirche ihr 100-jähriges Bestehen in Thüringen. Altbischof Christoph Kähler hat sich zu diesem Anlass für eine Erforschung der "Entnazifizierung" in den evangelischen Landeskirchen ausgesprochen. Es gebe Überblicke und Detailstudien, aber kaum systematische Darstellungen der Verfahren und ihrer Ergebnisse, sagte der Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. Auch für die DDR-Zeit bestehe Forschungsbedarf.

Die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen fallen an diesem Wochenende eher verhalten aus. Liegt das nur an der Corona-Epidemie?

Christoph Kähler: Natürlich nicht, denn diese Kirche hat sich vor elf Jahren mit der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der EKM, zusammengeschlossen. Insofern kann dieses Jubiläum keine Geburtstagsfeier für eine bestehende Institution werden, sondern bietet Anlass zur dankbaren und kritischen Rückschau. Es bleibt die Frage: Was ist unser christlicher Auftrag und was unser spezifisches kulturelles Erbe, das wir in und für Thüringen bewahren wollen?

Die Gründung der Landeskirche war die direkte Antwort auf die Abdankung der Herzöge und Fürsten im Land. Übernommen wurde auch deren konservatives Personal.

Kähler: Konservativ müsste man nach dem Ersten Weltkrieg alle großen Kirchen, ihre Gemeinden und ihre Pfarrerschaft nennen. Doch ein pauschales Urteil über die Thüringer Verantwortlichen und ihre zum Teil sehr liberale, zum Teil streng lutherische Theologie wäre ziemlich ungerecht. Das historisch Interessante ist in Thüringen, dass in der 1920 gegründeten Landeskirche auch religiöse Sozialisten wie Emil Fuchs und Erich Hertzsch arbeiteten und sogar in der Synode vertreten waren, was in ganz Deutschland nur noch in Baden und Württemberg der Fall war. Das Spektrum der theologischen und politischen Strömungen war in Thüringen extrem weit gespannt.

"Die Thüringische Landeskirche hat in beiden deutschen Diktaturen Entscheidungen gefällt und Äußerungen veröffentlicht, die theologisch, menschlich und politisch unverantwortlich waren"

Eine Tagung der Evangelischen Akademie zum Jubiläum steht unter dem provokanten Titel "Erst braun, dann rot?". Passt das Motto?

Kähler: Die Überschrift fasst ein allgemeines Vorurteil prägnant zusammen, das aber der höchst verwickelten Geschichte nicht gerecht wird. Dass die Kirchenleitung braun war, bedeutet nicht, dass alle Gemeindeglieder und die ganze Pfarrerschaft fanatische Nationalsozialisten waren. Es gab hier - wie in anderen Landeskirchen - Täter, Opfer und Gegner der Nazis. Zu den Merkpunkten der Thüringer Kirchengeschichte in der DDR gehört, dass die Alleingänge der Thüringer gegenüber dem Staat ohne Absprache mit den anderen Landeskirchen nach der Wahl von Werner Leich zum Landesbischof beendet wurden. Das damit erworbene Vertrauen in die Thüringer zeigte sich etwa in Leichs Wahl zum Vorsitzenden der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen. Er war es im Übrigen auch, der die missverständliche Formel von der "Kirche im Sozialismus" 1988 aufkündigte, was die SED als faktischen Angriff auf die Existenzberechtigung des "ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden" wertete. Die Thüringische Landeskirche hat in beiden deutschen Diktaturen Entscheidungen gefällt und Äußerungen veröffentlicht, die theologisch, menschlich und politisch unverantwortlich waren. Das kann und darf nicht verleugnet werden. Doch es hat in beiden Perioden Vertreterinnen und Vertreter gegeben, deren Dienst in den Gemeinden bis heute Hochachtung abnötigt.

Warum wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die innerkirchliche "Entnazifizierung" in Thüringen so halbherzig angegangen?

Kähler: Eine Gesamtdarstellung der "Entnazifizierung" für die einzelnen Landeskirchen wie für die Evangelische Kirche in Deutschland fehlt meines Wissens bis heute. Es gibt wohl Überblicke und Detailstudien, aber kaum systematische Darstellungen der Entnazifizierungsverfahren und ihrer Ergebnisse. Es ist zu hoffen, dass diese Lücke durch die künftige Forschung geschlossen wird. Für Thüringen wurde eine erste gründlichere Studie für diesen Komplex von Walter Weispfenning vorgelegt. Doch erst eine aus den Quellen gearbeitete vergleichende Gesamtschau oder mehrere gleichartige Untersuchungen böten die Grundlage für kritische Vergleiche der sehr verschiedenen deutschen Landeskirchen. Das gilt vor allem für die braune Diktatur in Deutschland.

Aber auch für die Kooperation und die Konfrontation mit dem DDR-Staat besteht weiter Forschungsbedarf - auch über das Verhalten der Thüringer Kirchenleitungen. Diese haben zeitweise die Nähe zu den diktatorisch Regierenden ohne die notwendige Abstimmung mit den anderen sieben Kirchenleitungen gesucht. Das hat aber in Gemeinden und in der Landessynode eine heftige Opposition hervorgerufen, die als Bewegung in der Tradition der Bekennenden Kirche steht und bis heute als Lutherische Bekenntnisgemeinschaft kirchliches Leben in Thüringen prägt.

"Dabei wurden auch höchst fragliche Behauptungen über die Handlungsmöglichkeiten der damals Verantwortlichen in Magdeburg und Eisenach aufgestellt"

Ein Versuch der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte war das Bußwort der EKM 2017, das aber kaum Wirkung entfaltete. Woran lag das?

Kähler: Das Bußwort bezieht sich unterschiedslos auf die Geschichte von zwei unterschiedlichen Landeskirchen, der Kirchenprovinz Sachsen und der Thüringer Kirche. Dass es meines Wissens keine wirkliche Resonanz hervorrief, hat für mich zwei Gründe. Zum einen ist es Ergebnis einer Arbeitsgruppe, das die Kirchenleitung angenommen hat, ohne dass die Landessynode oder einer ihrer Ausschüsse zuvor einbezogen waren. Dass der Synode dieses Wort lediglich mitgeteilt wurde, ist ein ausgesprochen seltsamer Vorgang. Denn die angesprochenen Themen hätten einer längeren Debatte und weiterer Expertise bedurft. Das war umso dringlicher, als eine jüngere Generation im Bußwort die "Sünden" ihrer Großeltern in Wir-Form beklagte, als ob sie die Täter wären. Dabei wurden auch höchst fragliche Behauptungen über die Handlungsmöglichkeiten der damals Verantwortlichen in Magdeburg und Eisenach aufgestellt. Diese Kritik habe ich den Verantwortlichen so früh wie möglich öffentlich vorgetragen.

2009 ging die Thüringer Landeskirche in der EKM auf. Wie viel ist von ihr in der neuen Landekirche übriggeblieben?

Kähler: Zunächst bleiben in allem Wandel die Gemeinden vor Ort in ihrer regionalen Umgebung, die schon innerhalb der bisherigen Landeskirche zum Teil noch volkskirchlich geprägt waren, zum Teil aber eine kleine Minderheit in extrem säkularisierten Gebieten darstellen. Sie brauchen nach wie vor den Dienst einer leistungsfähigen Landeskirche, die die Kirche vor Ort fördern, aber nicht ersetzen kann. An zwei Beispielen wird sich die Profilfrage entscheiden: Gelingt es den kleinen Gemeinden, ihre Dorfkirchen zu erhalten und zu nutzen? Und: Wie viel aus der reichen Thüringer Kirchenmusiktradition lässt sich weiter pflegen und lebendig erhalten? Vieles andere, was für Thüringen theologisch wie organisatorisch richtig und wichtig war, stellte keinen Unterschied zur Kirchenprovinz dar, sondern konnte gut in den gemeinsamen Regelungen aufgenommen werden.

"Einfach darf sich niemand einen solchen Vereinigungsprozess vorstellen, auch wenn es hinterher so aussieht"

Noch immer gleicht die Karte der Gebiete der Landeskirchen einem Flickenteppich. Ist es nicht allerhöchste Zeit für moderne territoriale Strukturen?

Kähler: Weder in der EKD noch in irgendeiner Landeskirche gibt es einen Diktator, der "moderne territoriale Strukturen" mit seiner Macht durchsetzen kann. Solche Entscheidungen müssen aus den Gemeinden und Regionen heraus wachsen und von den Landessynoden beschlossen werden. Ich sehe mit großem Respekt, dass und wie sich die Nordkirche gebildet hat. Ebenso bin ich immer noch dankbar, dass wir unter großen Schwierigkeiten, mit kluger Beratung durch externe kirchliche Fachleute, aber ohne Zwang unseren Weg zur EKM gefunden haben. Einfach darf sich niemand einen solchen Vereinigungsprozess vorstellen, auch wenn es hinterher so aussieht.