„Wir können nicht aufhören. Die Leute brauchen uns“

 Kirche in Rakka
Foto: epd-bild/Sebastian Backhaus
Eine von einem Luftschlag getroffene armenische Kirche in Rakka.
„Wir können nicht aufhören. Die Leute brauchen uns“
Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg: Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen und sind geflohen – nicht nur nach Europa und in die syrischen Nachbarstaaten, sondern auch innerhalb Syriens. Pastor Musa leitet im westlichen Teil Syriens, in dem nicht gekämpft wird, eine christliche Gemeinde. Mit einem Team von rund 60 Personen kümmert er sich in zehn Städten und Orten um die geflohenen Opfer der Gewalt – vor allem um Frauen und Kinder. Die Religion der Betroffenen spielt für ihn dabei keine Rolle.

Pastor Musa*, wie ist die Situation derzeit bei Ihnen zu Hause in Syrien?

Pastor Musa: Die Situation ist ziemlich schwierig für uns. Wissen Sie, die Leute aus all den Regionen, in denen gekämpft wird – sei es Aleppo, Rakka oder auch Damaskus – sind zu uns geflohen. Wir reden hier von 13,5 Millionen Menschen – vorher haben in der Region ungefähr eine Million Menschen gelebt. Die ganze Region hat sich verändert, ganz Syrien ist jetzt da. Sie können sich nicht vorstellen, wie voll es auf einmal geworden. Und durch die Menschenmassen ist das Leben sehr viel teurer geworden - ich würde sogar sagen, zehn Mal so teuer wie zuvor.

Wie kann man sich das Leben in Syrien vorstellen?

Pastor Musa: Es ist nur eine Kleinigkeit, aber es ist mir sofort aufgefallen, als ich nach Deutschland gekommen bin: Hier sind die Straßen von Blumen und andere Pflanzen gesäumt. Aber wenn man jetzt nach Syrien kommt, sind die Straßen gesäumt von den Leichen der Menschen, die im Krieg gestorben sind. Früher war die Familie das Wichtigste im Leben eines jeden und man war ganz nah zusammen – heute sind die Familien wegen der Flucht und den Kriegstoten zerrissen. Jede Familie hat Angehörige verloren und das führt zu großer Traurigkeit in unserem Land. Es herrschen vielerorts Resignation und Hoffnungslosigkeit – die Menschen haben aufgegeben.

Wie sieht speziell die Lage der Christen in Syrien aus?

Pastor Musa: Schlecht. Sehr, sehr schlecht. Vor dem Krieg haben wir Christen ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung ausgemacht – Orthodoxe, Katholiken und Protestanten zusammen genommen. Wir waren eine Minderheit, aber wir waren im ganzen Land vertreten. Inzwischen wir die Zahl der Christen in Syrien noch auf ein oder zwei Prozent geschätzt – mehr nicht mehr. Einige sind im Krieg gestorben, der größte Teil ist aber geflohen. Im Moment gibt es Regionen in meinem Heimatland, in denen es keine Christen oder Kirchen mehr gibt. Die Kirchen sind entweder in Brand gesteckt oder zerbombt worden.

Als in Homs von 2011 bis 2014 die Rebellen herrschten, wurde die Bischofsstatue auf dem Gelände des Bischofssitzes der griechisch orthodoxen Kirche geköpft. Im Zuge der Renovierungsarbeiten wurde sie 2018 wieder repariert.

Wie sieht Ihr Gemeindeleben aus?

Pastor Musa: Das hat sich seit dem Krieg tatsächlich verändert. Früher waren die Leute vom kirchlichen Leben eher gelangweilt. Ihr Fokus lag darauf, mehr Geld zu verdienen und im Leben voranzukommen. Seit dem Krieg kommen die Menschen viel häufiger in die Kirche, sie spüren jetzt eine viel engere Bindung an Gott und bitten ihn häufiger um seine Hilfe. Und so sieht es eigentlich überall aus. Wenn alles bei uns gut läuft, vergessen wir Gott – aber wenn wir Probleme haben, wenden wir uns Gott wieder zu. Da ist mein Gemeindeleben.

Durch den Krieg und die Verfolgung können viele Christen aber nicht mehr so beten, wie sie es früher getan haben. In Rakka und Al-Hasaka, wo ISIS an der Macht war, oder in Idlib und Aleppo, wo die Al-Nusra-Front geherrscht hat, wurden die Christen dazu gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Wer das nicht getan hat, wurde entweder vertrieben oder getötet. Die Kämpfer haben die Kirchen ausgeraubt, alle Kreuze zerstört und viele Frauen vergewaltigt und in die Sklaverei verkauft. Das ist zum Beispiel vielen jesidischen Frauen passiert.

Wir haben herausgefunden, dass jede Konfession sehr schöne Seiten hat

Wie gelingen das Zusammenleben und die Zusammenarbeit mit den anderen christlichen Konfessionen?

Pastor Musa: Vor dem Krieg gab es kaum Beziehungen zwischen Orthodoxen, Protestanten oder Katholiken. Im Krieg haben wir uns dazu entschieden, einander die Hände zu reichen und uns gegenseitig zu helfen. Wir haben herausgefunden, dass jede Konfession sehr schöne Seiten hat. Die Unterschiede zwischen uns haben wir überwunden, weil wir den Menschen so besser helfen können. Das mag die einzig gute Sache an diesem Krieg sein.

Sie haben das große Glück, in einer Region Syriens zu leben, in der nicht gekämpft wird. Das ganze Leid könnte Ihnen also egal sein, weil es Sie nicht persönlich betrifft. Wie sind Sie dazu gekommen, den Menschen trotzdem helfen zu wollen?

Pastor Musa: 2012 haben die Menschen mit ihren Schmerzen und ihrem Leid an unsere Tür geklopft und da konnte ich nicht mehr anders. An eine Frau mit ihren zwei Kindern erinnere ich mich noch ganz genau: Sie hat mir erzählt, wie ihr Mann vor ihren Augen und vor denen der Kinder brutal ermordet wurde. Und wie ihrer 12-Jährigen Tochter daraufhin vor Angst die Haare ausgefallen sind. Seitdem wacht das Mädchen jede Nacht schreiend und schweigebadet auf. Ich habe die Verzweiflung der Mutter gesehen, die nicht wusste, was sie mit ihren Kindern machen soll, damit es ihnen wieder besser geht. Und dann erzählte mir die Mutter, dass sie schon mehrmals darüber nachgedacht habe, das eigene Essen zu vergiften, damit sie alle sterben. Da habe ich mich gefragt: „Hasst sie ihre Kinder?“ Und die Antwort war eigentlich auch klar: „Nein, natürlich nicht.“ Sie ist nur einfach an einem Punkt angekommen, an dem sie keine Hoffnung mehr hat und verzweifelt ist. Diese Geschichte hat mich dazu gebracht, zu denken, dass Gott zu mir gesprochen hat und er hat mir aufgetragen hat, diesen Menschen zu helfen. Wir helfen, aber mit Liebe. Wir helfen, ohne etwas im Gegenzug zu verlangen, ohne Ausnahmen, ohne die Leute auszubeuten. Wir helfen allen Menschen - Christen und Muslimen.

Unsere Aufgabe ist es, den Hass aus dem Herzen und die Gedanken an Rache zu vertreiben

Wie genau sieht die Hilfe denn aus?

Pastor Musa: Das ist zum einem natürlich sehr praktische Hilfe, was zum Beispiel die Versorgung mit Lebensmitteln angeht. Aber wir haben uns auch entschieden, zu den Leuten zu gehen und zuzuhören: Dabei haben wir sehr schlimme Sachen gehört und mit den Menschen geweint. Zu uns kommen Leute, die Körperteile verloren haben, die blind oder taub geworden sind oder die traumatische Dinge erlebt haben. Eine Familie ist zum Beispiel vor dem sogenannten „Islamischen Staat“ aus der Region Al-Hasaka geflohen – der Vater und seine fünf Kinder kamen an einen Fluss und da musste der Vater entscheiden, welche Kinder er mitnehmen und welche er zurücklassen muss. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man seine Kinder hinter sich lassen können muss. Und dann gibt es noch Leute, deren ganze Familie nach einer Bombardierung unter den Trümmern eingeklemmt oder verschüttet war, und diese armen Menschen mussten hilflos dabei zusehen, wie sie sterben. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre ganz Familie unter den Trümmern begraben liegt und Sie können sie nicht darunter herausziehen?

Wir versuchen, zu den Leuten zu gehen und ihnen zu helfen. In einer der Regionen, in der wir arbeiten, haben wir ungefähr 250 Kinder zwischen vier und 13 Jahren, die Vater oder Mutter verloren haben – 70 Prozent der Kinder sind Muslime. Wir versuchen ihnen dabei zu helfen, die Trauer zu bewältigen – dabei benutzen wir Farben, Bilder, Geschichten, Spiele und die verschiedensten Aktivitäten. Wir haben auch Klassenräume zum Lernen, denn die Leute haben selbst kein Geld mehr, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Außerdem veranstalten wir an Weihnachten und Ostern richtige Feste und überraschen diese Kinder mit Geschenke und versuchen, ein Stück von der Freude am Leben zu diesen Kindern zurück zu bringen.

Zwei Jungen stehen im Februar 2018 vor zerstörten Häusern in Ost-Ghouta bei Damaskus.

Haben Sie mal darüber nachgedacht, selbst das Land zu verlassen und zu fliehen?

Pastor Musa: Hätten wir als Kirche uns entschieden zu fliehen und diese Gegend zu verlassen – was wäre dann mit diesen Kindern passiert? Die wären zu Gewalttätern herangewachsen und wären so wie die ISIS-Kämpfer geworden. Nein, unsere Aufgabe ist es, den Hass aus dem Herzen und die Gedanken an Rache zu vertreiben.

Welche schönen Momente erleben Sie in Ihrer Arbeit?

Pastor Musa: Es gibt nichts Schöneres als zu sehen, wie ein Kind, das seine Familie verloren hat, wieder Erfolg hat. Das gleiche gilt auch für die Frauen und Mütter, die Opfer von Gewalt geworden sind. Wenn du erfährst, was sie alles durchlitten haben, dann fühlst du dich, als ob du selbst zerbrochen bist. Es gibt Sachen, die man sich überhaupt nicht vorstellen kann. Und ich frage mich die ganze Zeit: „Warum? Was ist das Ziel? Warum das ganze Böse?“ Und dann fragt mich Gott: „Was kannst du für diese Menschen machen?“ Wir müssen zusammenarbeiten – die Kirche als Ganzes, sowohl in Syrien als auch außerhalb. Zusammen können wir viele Sachen schaffen.

Welchen Gefahren setzen Sie sich durch Ihre Hilfsaktionen aus?

Pastor Musa: Die Gefahr besteht, dass meine Kinder entführt werden und nur gegen eine Lösegeldzahlung freikommen. Und das passiert sehr häufig in Syrien. Oder dass ich selbst entführt und getötet werde. Einer aus unserem Team wurde in Homs entführt - von maskierten, bewaffneten Männern und die Kinder, um die sich das Team gekümmert hat, mussten dabei zusehen. Und das haben sie bis heute nicht vergessen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Person geköpft wurde. Außerdem hilft mir meine Familie bei der Arbeit und oft sind wir in Regionen, die bombardiert werden – da ist die Gefahr natürlich besonders groß. Aber wir können nicht aufhören. Die Leute brauchen uns.

Wie schätzen Sie die Zukunft Syriens ein?

Es wird nicht leicht. Viele Menschen haben Angehörige verloren und denken darüber nach. Rache zu nehmen. So wird der Kreislauf der Gewalt aber nicht durchbrochen, so ist kein Neuanfang möglich. Viele Menschen haben ihr Hab und Gut verloren, vielen mussten Körperteile amputiert werden – dadurch können sie nicht mehr arbeiten. Die Hälfte der Bewohner in Syrien ist an einem Punkt, an dem sie alles brauchen und für nichts selbst sorgen können. Und leider helfen die anderen Länder nicht sehr viel, sie schicken lieber Waffen und das macht die Situation noch viel schwieriger und komplizierter. Und trotzdem habe ich Hoffnung für Syriens Zukunft: Denn in dieser schweren Situation können wir eine neue Generation aufwachsen sehen, die Gott wirklich kennt. Und diese guten Menschen werden ein gutes Land aufbauen. Praktisch gesehen ist die Situation sehr negativ – aber durch den Glauben hat man Hoffnung für die Zukunft.

* Aus Sicherheitsgründen muss "Pastor Musa" unerkannt bleiben, deswegen werden weder sein richtiger Name noch sein genauer Wohnort in Syrien veröffentlicht.