Soziale Netzwerke als Propagandainstrument

Soziale Netzwerke als Propagandainstrument
Die sozialen Netzwerke gelten als einer der wesentlichen Faktoren für die Niederlage der türkischen Putschisten. Aber haben diese wirklich diese überragende Bedeutung, wie es heute so gerne behauptet wird? Daran muss man Zweifel haben, wenn man die Geschichte geglückter und gescheiterter Militärputsche kennt.

Militärputsche sind aus der Mode gekommen. So wurden noch in den 1960er und 1970er Jahren die meisten Staaten Südamerikas von Militärregimes regiert, aber das betraf in gleicher Weise Teile Europas. In Spanien, Portugal und Griechenland waren Militärs an der Macht. Selbst in Frankreich war die Gründung der 5. Republik die Folge eines Aufstandes von Teilen der Armee in der damaligen französischen Kolonie Algerien. Die Türkei galt in der Beziehung somit keineswegs als ein Sonderfall, sondern als ein typisches Beispiel für die Rolle des Militärs in Gesellschaften mit schwachen demokratischen Institutionen. Der weltpolitische Kontext der globalen Systemkonkurrenz machte dabei die jeweiligen innenpolitischen Konflikte zu einer Angelegenheit der Großmächte. Das betraf vor allem die Rolle der USA als westliche Vormacht. Die meisten Militärregierungen stellten sich auf Seite der herrschenden Eliten. Sie betrachteten sich als Bollwerk gegen linke (und kommunistische) Bewegungen. Der Tiefpunkt in dieser Entwicklung war sicherlich der Militärputsch in Chile vom 11. September 1973.

Ohne diesen historischen Kontext ist die Reaktion auf den versuchten Militärputsch von Freitag Nacht in der Türkei nicht zu erklären. Der Rückzug der Militärs in die Kasernen gilt mit guten Gründen als einer der wesentlichsten Fortschritte in der Weltpolitik seit den 1980er Jahren. Dabei betrachtet man das Militär als einen homogenen Block mit einer Befehlskette vom Generalstab bis zum einfachen Soldaten in der Kaserne, das in Widerspruch zu demokratischen Institutionen steht. In der Türkei konnte man Freitag Nacht meisterhaft erleben, wie die Erdogan-Regierung dieses Bild für ihre PR nutzte. Die Sichtweise der aufständischen Soldaten, erst wieder eine Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen zu ermöglichen, hatte keine Chance. Und das obwohl kaum jemand die Türkei noch am Freitag Mittag als einen demokratischen Verfassungsstaat betrachtet hat. Sie ist mittlerweile eher als eine Autokratie mit populistischer Legitimation durch einen Teil der Bevölkerung zu betrachten. Das Land befindet sich längst im latenten - und bisweilen offenen - Bürgerkrieg.

+++ Dieser Vorlauf ist wichtig, um die Rolle der Medien in dieser Freitag Nacht zu verstehen. Es war ein Propagandaerfolg der Erdogan-Regierung auf ganzer Linie. Das kommt auch in den Analysen zum Ausdruck, die in unseren Medien über die Funktion der sozialen Netzwerke zu finden sind. So schreibt Spiegel online:

„Mithilfe von sozialen Netzwerken verbreiteten sich die Parolen des Präsidenten an seine Anhänger - und sie verfingen. Gerade in den Städten der Türkei haben soziale Netzwerke überdurchschnittlich viele Nutzer. Erdogan konnte zahllose Unterstützer auf die Straße bringen, die sich für ihn sogar vor rollende Panzer legten. Es war ein Erfolg ohne die Hilfe der klassischen Medien.“

Und die Welt stellt fest:

„Wer diese Videos sah, wusste: Der Putsch scheiterte in genau diesem Moment live. Die von den Militärs ausgerufene Sperrstunde blieb komplett wirkungslos, da Erdogans Anhänger live beobachten konnten, wie gefahrlos sie sich in den Straßen bewegen konnten. Auch Erdogans Strategen konnten beobachten, wie die Soldaten am Flughafen Atatürk entwaffnet wurden – erst danach landete Erdogans Jet. Wie wiederum live der Online-Dienst Flightradar24 zeigte. Der Putschversuch vom 15. Juli zeigt, dass Putschisten ohne komplette Übernahme aller Kommunikationswege scheitern – und das genau diese Übernahme angesichts von verteilt organisierten, robusten sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter fast unmöglich ist.“

Ist ein Putsch wirklich unmöglich, wenn das Militär die sozialen Netzwerke nicht kontrolliert? Es passt in jenes Schema, das die Regierung in Ankara gerne vermittelt. Als Kampf der Demokratie gegen die geplante Diktatur. Tatsächlich weiß niemand, wie viele Türken in dieser Nacht überhaupt auf den Straßen gewesen sind. Waren es die Millionen Demokraten inclusive der Opposition, wie es die Bilder suggerierten, oder nur die Anhänger Erdogans, die ihn in diesem Machtkampf unterstützen wollten? Tatsächlich können wohl wenige Zweifel daran bestehen, dass eine zu allem entschlossene Armee und Polizei mit diesen Demonstrationen fertig geworden wäre. Die in solchen Putschen traditionelle Besetzung von Radio- und Fernsehanstalten sollen zwar die Mobilisierungsfähigkeit von Regierungsanhängern verhindern. Aber deren Besetzung garantierte noch nie den Erfolg. Die meisten Putsche scheiterten an der Uneinigkeit innerhalb des Militärapparates und der Polizei. Wenn sich relevante Teile von Armee und Polizei gegen die Putschisten stellen, haben diese zumeist keine Chance mehr. Oder es führt geradewegs in den Bürgerkrieg, wie es dem spanischen General Franco im Jahr 1936 passiert war.

Es ging also in der Propagandaschlacht von Freitag Nacht vor allem um die Reaktion innerhalb von Armee und Polizei. Der Putsch war nicht vom Generalstab geplant worden, der nur noch die Befehlskette nach unten in Gang setzen musste. Offensichtlich wussten weder die Erdogan-Regierung, noch die Putschisten, auf welche Seite sich relevante Teile von Armee und Polizei stellen würden. Die Erdogan-Regierung hatte zwar in den vergangenen Jahren versucht, Führungspositionen in Armee, Polizei und Geheimdiensten mit eigenen Anhängern zu besetzen. Aber trotzdem konnte sie sich der Loyalität der Sicherheitsapparate nicht sicher sein. Dafür gibt es auch historische Vorläufer: So galt in Chile der spätere Diktator Pinochet bis zum Putsch als loyal gegenüber der Allende-Regierung.

In solchen Situationen ohne klare Befehlskette muss sich jeder Offizier in Polizei und Armee entscheiden, wen er unterstützen will. Die meisten werden sich schließlich auf Seiten der Sieger stellen, wenn sie nicht politisch eindeutig festgelegt sind. Als den türkischen Putschisten die Festnahme der führenden AKP-Politiker misslungen war, kam etwa das Gerücht auf, Erdogan wäre schon auf der Flucht. Er wollte sogar politisches Asyl in Deutschland beantragen, so war zu lesen. Diese – und andere sogenannte „Informationen“ über die sozialen Netzwerke – hatten offensichtlich einen Adressaten: Die unentschiedenen Kader in Polizei und Armee. Es kam darauf an, wer die Befehlskette in den Sicherheitsapparaten am Ende kontrollieren und in Gang setzen wird. Davon hing der Erfolg der Putschisten ab. Das erinnerte durchaus an den Militärputsch deutscher Offiziere vom 20. Juli 1944. Sie wollten nach dem Tod Hitlers die Befehlskette der Wehrmacht mit dem Stichwort Walküre nutzen, um die anderen Machtfaktoren im Reich, wie die SS, auszuschalten. Dieser Versuch brach zusammen als klar geworden war, dass Hitler das Attentat überlebt hatte. Dessen damalige Rundfunkansprache diente auch dem Zweck, den Walküre-Befehl von Oberst Stauffenberg zu konterkarieren. Das als Beispiel für die Bedeutung der sozialen Netzwerke gelobte Interview Erdogans mit CNN-Türk via soziale Netzwerke ist somit keineswegs neu. Solche Ansprachen von Regierungschefs durften sich gescheiterte Putschisten schon immer anhören.

+++ Das relativiert auch das in den Medien jetzt häufig zu hörende Argument vom „Dilettantismus“ der türkischen Putschisten. Es verkennt die Ausgangslage und unterstellt einen Homogenität innerhalb von Armee und Polizei, die offensichtlich nicht existierte. Ansonsten wäre nämlich dieser Putsch gelungen. Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass Erdogan und seine AKP-Führungskader überhaupt wussten, wie dieser Putsch-Versuch ausgehen wird. Dafür hätten sie sich der Loyalität in den Sicherheitsapparaten sicher sein müssen. Die schon wenige Stunden nach dem Putsch angelaufenen Säuberungsaktionen in Armee und Justiz sprechen dagegen. Aber die Dynamik sozialer Netzwerke ist daran zu erkennen, dass schon kurz nach der Niederschlagung des Putsches von einer Inszenierung durch Erdogan selbst die Rede war. Oder er seinen Gegnern in der Armee eine Falle gestellt haben könnte.

Soziale Netzwerke funktionieren nach einer binärer Logik namens Gut gegen Böse („Demokratie gegen Militärdiktatur“). Und sie sind unfähig, komplexe und unübersichtliche Situationen abzubilden, weil sie über Bilder Scheingewißheiten vermitteln („Viele Türken kämpfen auf der Straße gegen die Putschisten“). Deshalb eignen sich soziale Netzwerke so vorzüglich als Propagandainstrument. Genau das ist die Lehre aus den Ereignissen in der Türkei am vergangenen Wochenende. Erdogan hat einen vollständigen Sieg über seine Gegner errungen. Diese hatten keine Chance. Aber die in diesen Stunden so häufig zu lesende These, die sozialen Netzwerke hätten hier eine historisch neue Rolle übernommen, ist schlecht begründet. Sie widerspricht der historischen Erfahrung. Und an der Funktionslogik erfolgreicher und gescheiterter Militärputsche hat sich in Wirklichkeit nichts geändert.

+++ Nur wie soll der Journalismus damit umgehen? Wolfgang Michal beschäftigt sich nach Nizza und dem Putsch in der Türkei mit dieser Frage. Es geht um jenes Problem, wofür es keine Lösung gibt. Die Echtzeitdynamik setzt den Journalismus unter Druck. Er muss über Entwicklungen berichten, deren Hintergründe zu diesem Zeitpunkt noch niemand kennen kann. Er will aber gleichzeitig nicht der Propaganda zum Opfer fallen, die die sozialen Netzwerke selber zum Schlachtfeld machen. Eine Lösung hat Michal natürlich auch nicht, aber er schärft das Problembewusstsein.

„Das Dilemma der vorschnellen Berichterstattung zeigt sich also in der bereitwilligen (oder unfreiwilligen) Ausstellung der anfänglichen Ahnungslosigkeit. … . Eine solche Haltung mag außerordentlich sympathisch sein, führt aber über kurz oder lang zu der Einstellung, dass man besser nichts von dem glauben sollte, was berichtet wird. Da man sich als Netz-Leser zudem – in mühsamer Eigenarbeit – die Fakten aus allen möglichen Quellen selbst zusammensuchen und diese vergleichen und bewerten soll (eine zeitraubende Tätigkeit, die früher der Journalist VOR seiner Veröffentlichung FÜR den Leser geleistet hat), entwertet die vorschnelle Berichterstattung den Journalismus als Profession. Das hören Journalistenhasser sicher gern, aber sie tragen mit ihrer Ungeduld und ihrem Unverständnis dazu bei, dass der Hochgeschwindigkeitsjournalismus mehr und mehr um sich greift. Er mag in seinen Methoden – in seiner Fehlerfreundlichkeit – höchst glaubwürdig sein, doch inhaltlich untergräbt er die Glaubwürdigkeit. Denn ein Journalismus, der sich andauernd korrigieren muss, wird irgendwann nicht mehr ernst genommen.“

Das relativiert zudem die Kritik an den Fernsehsendern, sie hätten Freitag Nacht den Putsch in der Türkei verschlafen. In Wirklichkeit hätten sie nur abbilden können, was in den sozialen Netzwerken zu erleben war. Das mit Journalismus zu verwechseln, ist wahrscheinlich der Irrtum unserer Zeit. Aber es brauchte schon immer Geduld bis eine Gesellschaft verstanden hat, welche Bedeutung technologische Innovationen für sie haben.


Altpapierkorb

+++ Mit der Reaktion der Fernsehanstalten auf den Türkei-Putsch beschäftigt sich auch Meedia. Sie betrachten Twitter als das Echtzeitmedium, selbst wenn dem Wahrheitsgehalt der dort zu findenden Botschaften nicht unbedingt zu trauen ist: „Nicht immer jedoch ist die Schnelligkeit in 140 Zeichen auch der Weisheit letzter Schluss: Die hunderttausend Tweets, die unter den Hashtags #Turkey und #TurkeyCoup abgesetzt wurden, führten teilweise in die Irre – wie etwa beim Gerücht, dass Präsident Erdogan in Deutschland Asyl beantragt habe, ihm jedoch die Einreise verweigert worden wäre und er sich dann angeblich im Anflug auf London befinde.“ Dafür wäre aber Facebook mit seinen Bewegtbildern der große Gewinner. „Ganz anders Facebook Live, wie sich beim Putschversuch in der Türkei erneut zeigte. Auch global ganz vorn dabei war das Social Media-Team von Bild.de, das nach Al-Jazeera den weltweit erfolgreichsten Livestream produzierte. Bei der nächtlichen Übertragung via Facebook kamen die Berliner auf 12.000 gleichzeitigen Nutzern, Al-Jazeera verbuchte mit seinem englischsprachigem (und daher deutlich reichweitenträchtigerem) Angebot 22.000 User.“ Jetzt muss man sich wirklich fragen, ob solche Reichweiten mitten in der Nacht wirklich den Aufwand für Fernsehsender rechtfertigt, eine eigene Live-Berichterstattung anzubieten. Zudem wird jeder Sender, etwa das gute alte Radio, in seinen Nachrichtensendungen den Sachstand stündlich zusammenfassen. Es gibt also Berichterstattung. Nur halt nicht live, um dort über nichts zu berichten.

+++ Die Debatte über Bewegtbilder hat aber schon vor dem Türkeiputsch stattgefunden. Ein Anlaß waren unter anderem die Videos von Richard Gutjahr aus Nizza. Dazu findet man unter anderem etwas hier und hier. Mathias Müller von Blumencron hat in der FAS dazu folgendes formuliert: „Zugrunde liegt ein fundamentaleres Problem: Facebook hat keinen Mechanismus, um Wahres von Unwahrem zu unterscheiden, es hat keinen Kompass für Gut und Böse. Zuckerberg hat es geschafft, die Antriebsinstinkte menschlicher Kommunikation im Digitalen zu bedienen. Sein Dienst ist ein raffinierter Ich-Verstärker, der es jedem Nutzer möglich macht, sein Selbstbild zu tunen. Das kann gesellschaftliche Strömungen jeder Art verstärken. Wenn in einem unterdrückten Land revolutionäre Funken sprühen, können die Facebook-Mechanismen dazu beitragen, daraus ein Feuer zu entfachen. Wenn in einem demokratischen Gemeinwesen das Misstrauen wächst, lässt Facebook die Stimmen derjenigen lauter werden, die der Gesellschaft schnelle Lösungen vorgaukeln.“

+++ Kress berichtet über die Reaktion des bedeutensten Verlegers der Türkei, Aydin Dogan, auf den Putsch. „Dogan verurteilt die Pläne von Teilen des Militärs scharf. "Es war ein bösartiger Angriff auf Staat, Nation und Demokratie", sagte Dogan, dessen Stellungnahme von seinem eigenen Sender CNN Türk und auf den Titelseiten seiner Zeitungen "Hürriyet" und "Posta" verbreitet wurden und die KRESS ebenfalls vorliegt. Dogan fügte hinzu, dass es nun "unsere Aufgabe" sei, sich für die Demokratie zu engagieren - über alle politischen Differenzen hinweg. Der 15. Juli werde in die Geschichte als Feiertag eingehen, als Tag, an dem ein Putsch abgewendet wurde. Dennoch bleibe der 15. Juli auch ein Tag der Trauer, weil viele Menschen ihre Leben verloren haben.“ Was aber Kress noch macht. Auf die zunehmend desaströse Lage des türkischen Journalismus hinzuweisen.

+++ Passend dazu: Wie sich türkische Medien bekriegen, ist bei turi nachzulesen.

+++ Der Bildblog weist noch einmal auf seine Linkliste zum Thema Echtzeitjournalismus hin, die er anläßlich der Terroranschläge in Paris vom vergangenen November veröffentlichte. Das könnte man auch als ein Statement gegen den Aktualitätswahn begreifen.

+++ Horizont beschäftigt sich ebenfalls mit Facebook. Allerdings mit der Kritik des Bundesjustizministers wegen der Unzulänglichkeiten beim Löschen von Hasskommentaren.

+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? David Garrett verklagt den Stern. Und Spiegel online stellt sein aktuelles Satireformat ein.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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