1, 2 oder 3 Prozent

1, 2 oder 3 Prozent

Was vom Wahltag übrigbleibt: Stuckrad-Barres "Situation Room" ist nicht lustig. Gerhart Baum hat zu viel Zeit. Oder ernsthafter: Ist die Berliner Runde noch zeitgemäß? Womöglich muss die 5-Prozent-Hürde auch nicht nur im Fernsehen weg. Zumal sich das Fernsehen eh nicht für Politik interessiert.

Was bleibt unter medialen Gesichtspunkten von der Wahl? Willi Winkler kehrt in der SZ (Seite 35) einmal durch das Fernsehprogramm. Allerdings gerät man schon bei der Einrichtungsbeschreibung von Benjamin von Stuckrad-Barres Ulmen-TV-Wahlnacht auf Springers Portal welt.de ins Grübeln:

"Über der Tür ist das Siegel des amerikanischen Präsidenten angebracht, und damit auch jeder merkt, dass es an diesem Wahlabend um Weltpolitik geht, wird zwar nicht Obama, aber doch ein stummer Schwarzer in die Ecke gesetzt."

Diese Anordnung hat, allen Ernstes, jemand für witzig gehalten? Döfer-Reaktionärer kann man als jungdynamisches Format kaum daherkommen; wenn man weiß ist, macht es sich halt leicht Scherze über den eigenen Blick auf Leute, die nicht aussehen, wie man selbst. Der große Vorteil: passt zur Kooperation mit Springers Welt.

Winklers Eingangslob möchte man nicht nur deshalb nicht zustimmen:

"Verlieren kann jeder, notfalls auch triumphieren, aber zum Helden braucht es mehr. Der Held des Wahlsonntags heißt Gerhart Baum. Er ist inzwischen achtzig Jahre alt, eine immer noch elegante Erscheinung, die jede Talkshow schmückt."

Zwar attestiert Winkler Baum eine "unerhörte Leidensfähigkeit". Allerdings fragt man sich angesichts der Tatsache, dass Baum nach dem Rumhampeln bei Stuckrad-Barre noch einen Platz im Wichtigkeitsarrangement von "Günther Jauch" sicher hatte, wie nötig man es (Geld und/oder Sichtbarkeit) als 80-jähriger, im Grunde ja respektierter Mann haben muss.

Um Bedeutungsperformance geht es im Tagesspiegel. Joachim Huber und Markus Ehrenberg kritisieren die Berliner Runde vom Sonntagabend wegen ihres zentralen Kriteriums – nur Parteienvertreter (waren's nicht mal die Vorsitzenden und wenn ja, wo war Gabriel) von upcoming Bundestagsfraktionen zuzulassen.

Huber und Ehrenberg interessieren sich nicht wie Wolfgang Hübner vom Neuen Deutschland für die kürzeren Redezeiten von Linken-Chef Bernd Riexinger (die dieser selbst auch thematisierte) – vielmehr sorgen sich beide um das Schweigen, zu dem FDP und AfD verdammt waren.

Der Einstieg zum Text ist dabei nicht das Überzeugendste:

"Man stelle sich vor, der Hamburger SV steigt am Ende dieser Saison aus der Fußball-Bundesliga ab. Das 'Aktuelle Sportstudio' des ZDF lädt sich dann die wichtigsten Beteiligten der abgelaufenen Spielzeit in die Sendung. Alle kommen."

So richtig trägt die Analogie nicht, weil für die Sportberichterstattung in einem solchen Fall kein vergleichbares Ritual zur Verfügung steht.

Das Kriterium für die Einladung zur Nachwahlbesprechung ist, werden ARD-Thomas-Baumann und ZDF-Peter-Frey unabhängig voneinander zitiert, die 5-Prozent-Hürde. Das kann man finden, Huber und Ehrenberg finden das eher doof:

"Das gefundene Kriterium enthebt ARD und ZDF jeder Überlegung, ob und wie das Auf und Ab in der Wählerbewegung samt Ausgang reflektiert werden muss."

Es ist halt eine andere Sendung: Zwar sitzen in der Runde auch Wahlverlierer nebeneinander, aber gemessen am Schicksal der FDP, wird die Geschichte dann eben doch von oben erzählt.

In solchen Momenten kann man hübsch sehen, wie staatsfern der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Alltag ist: Das, was die Berliner Runde zuerst abbildet, ist offiziöseste Zugehörigkeitswichtigkeit. Die Linke, das merkt man an der immer noch leicht aggressiven Scheu etwa von ARD-Baumann beim Fragenstellen, ist da am ehesten nicht vorgesehen. Was sich in der ganzen bundesrepublikanischen Gemütlichkeit, aus der ARD und ZDF ja kommen, aber keiner vorstellen konnte, dass die FDP da mal rausfällt.

Was tun?

5-Prozent-Hürde abschaffen. Fordern, unabhängig von einander Stefan Reinecke und - Niggemeier. Letzterer argumentiert in seinem Blog mit schöner Ironie:

"Im übrigen würde der Wegfall der Sperrklausel dazu führen, dass nur Menschen die FDP wählen, die die FDP wählen wollen, was ihre Rolle eher relativiert hätte. Mit der Hürde wäre ein wesentliches Argument, die FDP zu wählen, weggefallen."

Tatsächlich geht es ihm, wie Reinecke in der TAZ, um einen Waste of Wählerstimmen:

"Wie erklären wir jetzt den vielen Leuten, die das geglaubt haben, dass ihre Stimme trotzdem nicht zählt? 15 Prozent der gültigen Stimmen gestern wurden für Parteien abgegeben, die es nicht in den Bundestag geschafft haben."

Bei Reinecke heißt es:

"Wer ein politisches Desinteresse beklagt, muss sich deshalb fragen, ob unser hermetisches politisches System dies nicht fördert. Und ob eine Hürde von drei Prozent nicht klüger wäre."

Michael Schmalenstroer argumentiert auf Carta in dieser Sache und wirft einen Blick zurück:

"2009 entfielen etwa nur 6 Prozent der Stimmen auf 'Sonstige', 2005 waren es 4 Prozent, 2002 waren es 7 Prozent und 1998 5,9 Prozent. Ein kleiner historischer Vergleich: 1972 waren es 1 Prozent, 1980 waren es 1,9 Prozent."

Damals war die Welt der Elefantenrunde noch in Ordnung.

An diskursiver Kraft gewinnen könnte bis 2017 (oder auch früher) ein anderes Thema, auf das Rainer Stadler in seiner NZZ-Kolumne "In Medias ras" verweist:

"Fast jedes Mittel schien recht, um politisch desinteressierte Subjekte an die Urnen zu locken. Etwa mit einem Spielchen. Beim ZDF durften Spitzenpolitiker die Kindersendung '1, 2 oder 3' nachspielen, von Feld zu Feld hüpfen und Fragen beantworten."

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Dabei interessiert sich das Fernsehen ja selbst nicht für die Politik, wie nach Ursula von der Leyen bei "Jauch" (in dieser Tagesschaum-Folge ab 8.15) am Sonntag Peer Steinbrück in der Berliner Runde mit seiner Frage nach "Inhalten" an die moderierenden Journalisten noch einmal bekräftigte.

Ein bezeichnendes Beispiel beschreibt Stadler in seinem Text – die merkwürdige Karriere jener armen Rentnerin, deren Schicksal Angela Merkel in einer Fernsehsendung rühren sollte (was es eher bedingt tat):

"Weil die Rentnerin offenbar die Kanzlerin ein bisschen aus dem Konzept brachte, war dies wiederum ein Grund, sie erneut ins Fernsehen einzuladen – eine solche Tat scheint ein Medienereignis zu sein. In der ZDF-Sendung von Markus Lanz durfte die Frau Donnerstagnacht von ihrer unergiebigen Begegnung mit der Kanzlerin berichten und nochmals ihr Los – fast weinend – in kurzen Worten schildern. Sie hatte allerdings das Pech, dass um sie herum Talkshow-Profis wie Helmut (sic) Karasek und Michel Friedman sassen. Die Runde war ratlos und wechselte sogleich das Thema. Eine ätzende Entlarvung: Der vom Fernsehen arrangierte Betroffenheitskult verkehrte sich in kalte Gleichgültigkeit."

Diese Form vom Verlogenheit kriegt Markus Lanz naturgemäß – wenn überhaupt – als letzter reflektiert. Stadler seufzt:

"Das TV-Schicksal der Politiker möchte man nicht teilen."

Auch deshalb macht einen Gerhart Baums Masochismus ratlos. Im Fernsehen geht der Zirkus weiter. Springers Welt hat gestern Plasberg geguckt. FAZ auch.

Und von der Causa Nordkurier, wo die exklusiven Exit-Polls am Sonntag zu früh veröffentlicht wurden und womöglich eine Strafe droht, gibt es derweil noch nichts Neues. Im Tagesspiegel schreibt Kurt Sagatz den schönen Satz:

"Am Montag ruhte das Verfahren, weil sich der Wahlleiter auf dem Rückweg von Berlin nach Wiesbaden befand."


Altpapierkorb

+++ In der Welt kürt Benedikt Gradl noch einen Sieger: "Somit ist Forsa der Umfragen-Gewinner dieser Wahl. Bei fünf Ergebnissen lag das Institut richtig oder am nächsten am tatsächlichen Wahlergebnis." +++ Weniger nach dem Verlierer, den etwa Michael Hanfeld in der TAZ und ihrer Art und Weise der Selbst- bzw Grünen-Kritik gesehen hatte (AP von gestern und Freitag), wirkt die TAZ im Blick von – wiederum – Rainer Stadler von der NZZ her. Stadler schreibt lobend: "Bereits im April 2010 fragte sie: 'War die TAZ eine Spielwiese für Pädophile?' Später ging die Redaktion in weiteren Artikeln aufs Thema ein – auf eine selbstkritische Art, wie sie in der Medienbranche unüblich ist." +++

+++ Johannes Boie geht in der SZ (Seite 35) auf den CCC-Coup ein, Apples Fingerabdruck-ID geknackt zu haben: "Experten wundern sich indessen überhaupt nicht über den Coup des Chaos Computer Clubs, der ein kurzes Video ('hacking iphone 5S touchID') auf Youtube veröffentlichte. Viele Hacker in Deutschland erinnern sich noch an die legendäre Ausgabe des CCC-Heftes Datenschleuder, dem 2008 der Fingerabdruck Wolfgang Schäubles als dünne Folie beilag. Unter dem Titel 'How to fake fingerprints?' veröffentlichte der Club bereits 2004 eine detaillierte Anleitung zum Fälschen von Fingerabdrücken." +++ Marvin Oppong veröffentlich auf Meedia.de einen Vorabdruck seiner Otto-Brenner-Stiftungs-Studie zu PR-Einflussmöglichkeiten auf Wikipedia am Beispiel der Steyler Missionare. +++ Hannah Lühmann stellt in der Berliner nicht so recht convinced das Vice-Magazin vor, dass als Magazin schon Preise erhalten hat und online zu ziehen scheint: "Und das Herumklicken im Online-Magazin macht süchtig. Im Durchschnitt halten sich die Leser 23 Minuten auf der Seite auf. Nur zum Vergleich: Spiegel Online brüstet sich mit 13,5 Minuten – und schon die sind weit überdurchschnittlich." +++ Ulrike Simon berichtet dagegen ebenfalls in der Berliner, dass die Wochenzeitung Die Zeit sich ins Regionale ausdehnt, den sogenannten Osten – was wohl offenbar auch als therapeutische Maßnahme für die Hamburger Redaktion gedacht ist: "Patrik Schwarz, der als Redakteur für besondere Aufgaben sich bereits um die 'Zeit für Sachsen' kümmerte und nun auch die 'Zeit im Osten' koordiniert, sagt, allein die Existenz der sächsischen Ausgabe habe dazu geführt, dass sich in der Hamburger Redaktion das Bewusstsein für ostdeutsche Themen stärker entwickelt hat: 'Die Berichterstattung beginnt auf die ganze Zeitung auszustrahlen'." Schon bald wird man sie mit Geigerzählern messen können, 2013, amazing. +++

+++ Paulchen Kuhn ist tot, und er war ein Mann des Fernsehens. Der in Fragen der Unterhaltungskunst wie immer kluge und sensible Dieter Bartetzko schreibt in der FAZ von Anfängen und eigentlicher Bestimmung: "Doch ganz verkannt war Paul Kuhn 1954 nicht: Die Jazzklubs der GIs in Wiesbaden und Frankfurt, der AFN und bald auch die ersten deutschen Jazzkeller rissen sich um ihn." +++ Helmut Maurós Nachruf in der SZ (Seite 17) bollert dagegen ein wenig rum, dass man fast das Gefühl kriegen kann, der Autor hielte von Kuhn nicht viel: "Es war kein Licht am Ende des Tunnels, es kam noch schlimmer. Kuhn wurde TV-Entertainer und Schauspieler, schließlich Chef der SFB-Bigband, die sich als reines Fernseh-Tanzorchester entpuppte." ++

+++ Emmys wurden in den USA verliehen. Patrick Bahners in der FAZ (Seite 39): "In ausführlichen kulturkritischen Einlassungen legte Soderbergh in den Tagen der Premiere dar, er wolle nie wieder für das Kino arbeiten. Damit schmeichelte er dem Selbstbewusstsein der Fernsehbranche, der Kritiker bescheinigen, dass selbst die Standardproduktionen der alten Großsender ein höheres Niveau haben als die normale Ware aus Hollywood." +++ Peter Richter in der SZ: "Und sonst war die Veranstaltung exakt so langweilig und zäh, wie solche Preisverleihungen eben nun einmal sind. Das ist auch mit Tanz und Gesangseinlagen in der Regel kaum zu verhindern." +++ Metonymisch etwas verunglückt: Jens Mayer in der TAZ: "Das weltweite Interesse an der US-Fernsehauszeichnung ist in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen. Wo die Oscar-Zeremonie längst zum zähen und mäßig unterhaltsamen Ritual verkommen ist und die Filmstudios immer seltener auf wirklich innovative oder zumindest einfallsreich-kluge Unterhaltung setzen, rufen Filmstars wie Kevin Spacey die 'goldene Ära des Fernsehens' aus." +++

+++ In der NZZ eine Studie über Klimawandelberichterstattung aus Oxford: "Untersucht wurden je drei Zeitungen Grossbritanniens, Australiens, Frankreichs, Indiens, Norwegens und der USA mit einer Gesamtauflage von 15 Millionen Exemplaren. Es sind vor allem Titel der Qualitätspresse berücksichtigt worden, nicht aber Blogs, in denen ein erheblicher Teil der medialen Klimadebatte abläuft. Die Medienbeobachter schauten sich rund 350 Artikel an, die zwischen 2007 und 2012 publiziert worden waren. In über 80 Prozent davon dominiert die Erzählform der Katastrophe. Ging es um Artikel über die Uno-Klimaberichte war das Katastrophen-Narrativ gar in über 90 Prozent der Artikel vorhanden." +++ Und in der FAZ (Seite 39) schreibt Sebastian Wilde über den exilierten marokkanischen Journalisten Aboubakr Jamaï: "In der von Jamaï gegründeten marokkanischen Online-Zeitung 'Lakome' veröffentlichte Anouzla einen Bericht über ein einundvierzig Minuten langes (mittlerweile gelöschtes) Youtube-Video von Al Qaida mit dem Titel 'Marokko, Königreich der Korruption und des Despotismus'. Das Video richtet sich gezielt an die Terrororganisation 'Al Qaida für den Islamischen Maghreb' und ruft zum Dschihad auf. Jamaï betont, dass das Video in Anouzlas Artikel gar nicht zu sehen, sondern nur über einen Link zur spanischen Zeitung 'El País' zu erreichen war." +++

Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder

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