Unlängst brunchten wir

Unlängst brunchten wir

16 Milliarden Seitenaufrufe im Monat – das ist noch nicht die Schallmauer, die Red Bulls ServusTV mit dem Stratosprung durchbrochen hat, sondern das Geschäftsmodell des sogenannte Pornokönigs. Über Annette Schavans Plagiat muss sich die Meinung erst noch bilden, was nicht das Schlechteste ist. Ebenso wie die Entschuldigung von Joko & Klaas.

Was zu den Nachrufen auf Harry Valérien (Altpapier von gestern) noch zu sagen wäre: Die Frage, ob früher wenn nicht alles, so doch wenigstens etwas besser war, lässt sich in diesem Fall recht leicht beantworten. Durch diesen schönen Zusammenschnitt einer Sportstudio-Sendung von 1985, (den die Sendung selbst dahingestellt hat) in der sich der Kaiser aka Franz Beckenbauer als Teamchef der "Ländermannschaft" (Valérien) mit ähnlichen Problemen rumschlägt wie Rudi Völler 18 Jahre später nach dem Islandspiel.

Fast möchte man slicken Dokumentartheatermachern vorschlagen, beider, Völlers und des Kaisers Texte einmal nebeneinander zu reinszenieren, um die Übereinstimmungen an der Sportreporterkritik bis in Argumentation und Wortwahl hervorzuheben – der "Tiefpunkt" bei Völler ist der "Nullpunkt" bei Beckenbauer, und während Rudi Gerhard Delling die "Wetten, dass..?"-Moderation empfiehlt, erkennt der Kaiser im seinerzeit jungen Marcel Reif einen politischen Kommentator (ab 5:11).

[+++] Dass der Blick aufs Früher durchaus für Differenzierungen taugt, kann man in Ines Pohls TAZ-Kommentar zum Fall Schavanplag nachlesen. Darin schreibt die Chefredakteurin:

"Richtig ist aber auch, dass ihr Fall allein schon deswegen anders gelagert ist, weil sie ihre Doktorarbeit verfasst hat, lange bevor es das einfache Internetkopieren gab."

Schavan hat ihre fußnotenlosen Übernahmen noch händisch nicht ausgewiesen, darin steckt in der Tat mehr Arbeit als im Zwei-Finger-Klassiker Strg+C-Strg+V. Ob das schon zur Ehrenrettung reicht?

Auffällig ist, dass Schavan – womöglich nur: im Moment noch – mit mehr Milde von politischen Gegnern und Medien behandelt wird. Selbst Pohl, die vorschlägt, Schavan an ihrer Arbeit als Bildungsministerin zu messen, die sie selbst als "mies" beschreibt, nimmt die Ministerin am Ende in gewisser Weise in Schutz:

"Schavan ist ein beliebtes Angriffsziel: als enge Merkel-Vertraute, als umstrittene Christdemokratin und nicht zuletzt als eine Bildungsministerin, die es einem einfach macht, sie zu kritisieren. Aber genau weil das so ist, sollte man sich zunächst über ihre miese Bilanz empören und beim Rest abwarten, was glaubwürdige und unabhängige Gutachter herausfinden."

Die FAZ hat naturgemäß andere Interessen, weshalb der Text von Heike Schmoll in Kritikern von Schavans akademischer Arbeit keine Gruppe entdeckt, die man ernst nehmen müsste:

"Wer sind diese Plagiatsjäger eigentlich? Gescheiterte Akademiker, Informatiker, Pedanten oder Zeitgenossen, die eine Leidenschaft dafür entwickelt haben, promovierten Prominenten Fehler nachzuweisen und sie im Zweifel auch 'abzuschießen'?"

Die Möglichkeit, dass sich es um Akademiker handeln könnte, die ein gewisses Arbeitsethos für nicht unwichtig halten, existiert in dieser standesbewussten Vorstellung logischerweise nicht.

Dennoch kann man Schmolls Zweifeln an einer zu raschen Verurteilung der Ministerin folgen. Anders als in der Guttenberg-Hysterie könnte es im Falle Schavans (oder ist das naiv im Bezug auf politische Interessen, die dahinterstehen?) zu einer angemessenen Beurteilung des einzelnen, ihres Falles kommen. Und dann bewegt man sich auf schwierigem Geläuf, wie der Text des Juristen und Autors Wolfgang Bittner im FAZ-Feuilleton (Seite 25) performativ vorführt.

Der ist nämlich intellektuell so trostlos in seinem Durchbuchstabieren von allem, was einem zum Thema Plagiat einfällt, dass man ihn als einen Akt der Konzeptkunst betrachten kann:

"Manche Ideen liegen zwar in der Luft, und jeder Autor wird sich hin und wieder dabei ertappen, dass er Gedanken anderer übernimmt – warum auch nicht. Wenn jedoch Parallelen bis in Einzelheiten hinein auftreten oder sogar seitenweise wörtlich abgeschrieben wird, kann von geistigem Diebstahl, also einem strafrechtlich relevanten Plagiat, ausgegangen werden."

Esprit ist nicht das Wort, nach dem sucht, wer so was gelesen hat. Bittner schreibt einfach alles auf, was alle aufschreiben würden, inklusive der Helene-Hegemann-Verdammung (die in unserer Erinnerung des Falls eine differenziertere Betrachtung verdient hätte) – und führt damit vor, wie schwer es ist, einen neuen Gedanken zu entführen von den Allgemeinplätzen, auf denen die eigene Meinungsbildung mit allen anderen zumeist abhängt.

Höchst anregend ist dagegen Till Westermayers Beitrag auf Carta. Schon weil der nicht daherkommt als gültiger Artikel, sondern seine eigene Skepsis befragt:

"Ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher, was ich davon halten soll. Auf der einen Seite ist es völlig klar: Eine Bundesministerin, die – sollte sich der Verdacht bewahrheiten – in ihrer Promotionsarbeit wissentlich und willentlich getäuscht hat, und der deswegen der Titel entzogen wird, hat ein Problem."

Zumal eine Bundesbildungsministerin, was der Sache eine für Schavans Zukunft vielleicht entscheidende Pointe verschafft. Ausgehend von seiner Suche nach einem Urteil diskutiert Westermayer das Thema umfassend. Etwa die mediale Reflexhaftigkeit, die, wo immer etwas vermeldet wird, was der Regierungssprecher nicht am Wochenanfang als Termin angekündigt hat, Rücktritt ruft.

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"Auch die ganzen Gates der Piraten fallen mir hier ein. Das Internet trägt das Seine dazu bei, dass Fehlverhalten jeglicher Art überaus schnell skandalisierbar wird. Mein Gefühl: nach einer langen Phase des Vertuschens sind wir derzeit in einer Phase der Hypersensitivität gegenüber echten und scheinbaren Integritätsfehlern bei PolitikerInnen. Eine Phase, die es schwer macht, zwischen Bagatellen und Mappusiaden zu unterscheiden, und die noch dazu dem Takt der medialen Großwetterlage mit ihren Aufmerksamkeitstiefs und -hochs gehorchen muss."

Westermayers zweiter Punkt ist die Wirkung, die der Titel erzeugt, weshalb es einen – je unterschiedlicher – Anreiz gibt, ihn zu erringen:

"Was sagt so ein Titel überhaupt aus? Und was sagt er im historischen Kontext aus? Je nach Fach (hallo, Humanmedizin!), Einbindung (hallo, wissenschaftliche Arbeitsteilung!), gesellschaftlichem Umfeld (hallo, Bürgertum!) und Zeitpunkt (Magisterstudiengänge wurden in den 1960er Jahren eingeführt, um die bis dahin im geisteswissenschaftlichen Umfeld übliche Promotion als Regelabschluss durch einen »berufsnäheren« Grad zu ergänzen) steckt hinter den Buchstaben 'Dr.' eine ganz unterschiedliche Leistung."

Die Beurteilung von Schavans Fall führt folglich über ein Gegeneinanderabwägen von beidem.

Damit betrauen sollte man nicht unbedingt Günther Jauch, der sich noch immer der Kritik an der Kachelmannsendung ausgesetzt sieht: Im Tagesspiegel schreiben Sidney Gennies und Sonja Pohlmann von einer der einstigen Kachelmann-Geliebten, die gerichtlich die Sendung aus der Mediathek entfernen lassen will.


ALTPAPIERKORB

+++ Bald gelöscht werden die Blogbeiträge von Peer Schader [der in grauer Vorzeit ja auch mal Altpapier-Autor war] auf FAZ.net – also das Fernsehblog und das Supermarktblog. Für die TAZ hat Jörn Kruse bei der FAZ nachgefragt und von Feuilletonchef Minkmar erfahren: "'Wir wollten unser Blogangebot mal erneuern', wie man das bei Kolumnen in der Zeitung auch ab und an mal mache. Deshalb wurde Schader vor zwei Wochen mitgeteilt, dass er am gestrigen Montag noch einen letzten Eintrag verfassen dürfe." Es geht wohl auch ums Sparen, wobei man sich dann erstens fragt, warum depubliziert werden muss, und zweitens, warum das Fernsehblog, das, wenn man der TAZ glauben kann, zu den beliebteren gehörte: "Nur zwei Blogs von faz.net haben mehr Einträge. 8.140-mal wurden die Texte von Niggemeier und Schader kommentiert (Stand: Montagnachmittag). Auch da weisen nur zwei faz.net-Blogs höhere Werte auf. Warum also gerade das Aus für das Fernsehblog? Geld oder Klickzahlen sollen keine Rolle gespielt haben." Auch zu Ende geht ebenda Eric Pfeils "Pop-Tagebuch". Ob Hans Ulrich "Sepp" Gumbrecht mit seinem aktuellen Post auch "Auf Wiedersehen" sagen möchte, konnten wir in der Eile nicht verstehen. Blieben die auch nach 80 Beiträgen noch immer kommentarlosen "Digital/Pausen" dem überarbeiteten Blogangebot erhalten, spräche das zumindest dafür, dass es weder ums Geld noch um Klicks geht (wobei Kommentare nicht zwangsläufig etwas über Klicks sagen müssen, vielleicht ist der Gumbrecht in dieser so genannten Internetgemeinde ja auch hottester Shit). +++

+++ Wie man sich in Kaffeesatzleserei verlieren kann, tss, tss. Lieber ein paar Hard Facts. Red Bulls Chef Dietrich Mateschitz ist zwei nach dem Stratosphären-Sprung ins Zentrum des Interesses gerückt, dem er sich, wie sich das für einen klugen Vermarkter gehört, durch Öffentlichkeitsscheue entzieht. In der FAZ kommt Michaela Seiser dem Marketingcoup fern der traditionellen Kanäle dem waghalsigen Unterfangen moralisch ("Wie viel ist ein Menschenleben wert? Was ist dagegen Publizität wert?"). +++ Kann man bestimmt alles beziffern. Felix Disselhoffs Zahlen auf Meedia.de nach dem geglückten Sprung klingen zwar nicht mehr ganz so groß wie nach dem abgeblasenen Versuch letzte Woche (Altpapier vom Donnerstag, ganz unten), aber: "Auch Online erreicht ServusTV Rekordzahlen. Über 720.000 Besucher sorgten für über drei Millionen Seitenaufrufe. In der Spitze verfolgten über 154.000 User das Live-Geschehen gleichzeitig im Stream. 32.000 User waren live auf Ihrem Smartphone dabei. Insgesamt wurden über eine Millionen Videos abgerufen." +++ Liest sich jedoch wie Peanuts, wenn man sich das Meedia.de-Exzerpt ("Pornokönig lässt die Hosen runter") eines FTD-Artikels über den Fabian Thylman anschaut, der im Internet Geld verdient: "Ein Dutzend Websites, darunter Pornhub.com, Youporn.com und Tube8.com, erzielten etwa 16 Milliarden Seitenaufrufe im Monat. Die Holding setze einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag um, sagte der Mittdreißiger, der ursprünglich Programmierer war und Manwin 2007 gründete. Operativ schreibe das Unternehmen, das rund 1.000 Mitarbeiter in verschiedenen Ländern beschäftigen soll, schwarze Zahlen." +++

+++ Nicht ganz so rosig sieht's für die Öffentlich-Rechtlichen, vor allem das ZDF aus, dort muss gespart werden an der gewachsenen Familie. Claudia Tieschky schreibt in der SZ (Seite 31): "In dem Szenario, das nun in Politik und Sender kursiert und das 2015/16 Teil des Rundfunkstaatsvertrags werden könnte, geht es um eine geschrumpfte Senderwelt, die den Zuschauer aber von der Wiege bis zur Bahre bedient. Ein gemeinsamer Jugendkanal wäre, so schildern Beteiligte, das Kernstück des Plans, bei dem es darum geht, jüngere Zuschauer für das System zu gewinnen." +++ Das Durchleiten der Zuschauerkohorten klingt in den Darstellungen des SRG-Chefs Roger de Weck, den die NZZ interviewt hat, so: "Unlängst brunchten wir im Restaurant, ein Dreikäsehoch langweilte sich. Seine Mutter setzte ihm ein iPad vor die Nase, auf dem er eine Stunde lang Kinderspiele spielte – noch bevor er richtig sprechen kann. Das ist der Zuschauer von morgen. Wir erreichen ihn, wenn wir auf sein Multimedia-Verhalten bauen." +++

+++ Joko & Klaas, die in solchen Überlegungen eine Rolle spielen könnten, sind gerade mit dem Entschuldigen beschäftigt (etwa KSTA). +++ Was die Überschrift doch ausmacht: Die Berliner schreibt da von einem "angeblichen" Busen-Grapscher, die TAZ betitelt die Meldung mit "Sexuelle Belästigung heißt jetzt Schwachsinn". It's all about wording, vielleicht besteht aber doch die Hoffnung, dass die Entschuldigung von Klaas Heufer-Umlauf zur Abwechslung mal ernstgemeint ist und nicht dahingesagt, und dass aus dieser (Altpapier von gestern) die dann doch gute Nachricht hervorgehen könnte, dass aus der Angelegenheit etwas begriffen worden ist, was vorher durchaus gewusst wurde. +++ Wenn das ZDF im Zuge des Sparens "Roche & Böhmermann" loswerden wollte, Tele5 hört nicht auf, Interesse an interessantem Fernsehen zu haben, schreibt dwdl.de.

+++ Upcoming Events. Die FAZ (Seite 29) trifft Götz George auf dem Set, an dem er seinen Vater spielt für eine Nico-Hofmann-Produktion. Und für die Berliner spricht Jan Freitag mit Niki Stein, dem Regisseur der Nico-Hofmann-Produktion "Rommel", die bald kommt. Wie heikel der Stoff ist, wird sich dann zeigen. Dafür, dass der Nazi-Rommel hinter dem Widerstandshelden-Rommel verschwindet, entschuldigt sich Stein jetzt schon mal: "Entschuldigung, der Film beginnt mit einer Wochenschau, die ihn als Propaganda-Instrument der Nazis zeigt. Sie können dem Film nicht vorwerfen, Rommel nicht chronologisch über elf Jahre zu erzählen, und schon gar nicht, dass Ulrich Tukur ihn so wunderbar spielt." Diese Schauspieler, sie tun einfach nie, was man ihnen der Regisseur sagt. +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder gegen 9 Uhr.

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