Protestantismus und der "Heilige Rock"

Protestantismus und der "Heilige Rock"

Vorbemerkung

Trier steht zurzeit ganz im Zeichen einer Wallfahrt. Bis Mitte Mai werden über 500.000 Pilgerinnen und Pilger zum "Heiligen Rock" erwartet. An der letzten Wallfahrt im Jahr 1996 nahm erstmals auch der damalige Rheinische Präses Peter Beier teil. Präses Beier, selbst aus reformierter Tradition stammend, interpretierte den Heiligen Rock als Symbol der ungeteilten Kirche Jesu Christi. Diese Deutung des Heiligen Rockes ermöglichte es ihm, sich ungeachtet der grundsätzlichen Bedenken und der teilweise heftigen Proteste evangelischer Gemeinden an der Wallfahrt aktiv zu beteiligen.

###mehr-personen###

Und in der Tat – Wallfahrten zu Reliquien widersprechen lutherischen wie reformierten Traditionen völlig. So gab es vor wenigen Jahren Diskussionsbedarf in der Evangelischen Kirche im Rheinland, aber auch in anderen evangelischen Kirchen  innerhalb der ACK, als diese zur Beteiligung an der "Christus-Wallfahrt 2012" eingeladen wurden.  Eine Wallfahrt, an deren inhaltliche Vorbereitung und Gestaltung die evangelischen Kirchen vom Bistum Trier ausdrücklich bestärkt wurden. 
 
Mittlerweile ist deutlich: Evangelische Gemeinden beteiligen sich in vielfältiger Form an dieser Wallfahrt. Verdeutlichen ihre Positionen. Diskutieren in den unterschiedlichen Foren mit. Und tragen dazu bei, dass aus der "Heilig-Rock-Wallfahrt" tatsächlich eine "Christus-Wallfahrt" wird.

Die nachfolgenden Bemerkungen sind keine Überlegungen zum Stand der Ökumene oder zu den theologischen wie kirchenpolitischen Konsequenzen, die sich aus dieser Wallfahrt ergeben. Für ein Fazit ist es noch zu früh. Aber ein Blick in die Kirchengeschichte und auf den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, ist geboten.

Reliquien und Wallfahrten – eine lange Tradition

Die Bezeichnung "Heilig-Rock-Wallfahrt" beinhaltet zwei Begriffe, die thematisch eng zusammengehören, doch zunächst getrennt voneinander betrachtet werden müssen: "Wallfahrt" und "Heilig-Rock".

Wallfahrten lassen sich bis in die Alte Kirchengeschichte hinein zurückführen. Bereits die frühen Christen waren davon überzeugt, dass sich das Göttliche an bestimmten Orten manifestiert  und in besonderen Gegenständen wie dem Heiligen Rock konkretisiert. Der Glaube der Christen wird in dieser Begegnung gestärkt und spürbar. Die – meist mühsame und körperlich anstrengende - Wallfahrt zu diesem heiligen Ort/Gegenstand diente der notwendigen persönlichen  Buße und somit der spirituellen Vorbereitung auf die Konfrontation mit dem Göttlichen.

Zugleich kommt seit dem Hochmittelalter eine weitere, für die Reformatoren außerordentlich problematische Bedeutungsebene hinzu – die Heiligen Orte wie Heiligen Gegenstände galten vielfach als ein Offenbarungsraum, in dem sich Gott oder die betreffenden Heiligen unmittelbar dem Gläubigen real konkretisieren. Wer beispielsweise das Grab einer Heiligen aufsucht, tritt in einen unmittelbaren, höchst realen und unmittelbaren Kontakt zu der Heiligen; wer eine Reliquie berührt, berührt zugleich dessen Träger.          

In Analogie zu diesem Verständnis von Heiligen Orten wurden bereits im 11. Jahrhundert die Wallfahrten nicht nur als notwendiger Bußakt, sondern auch als eine Handlung interpretiert, der den Teilnehmenden die Sündenschuld (!) faktisch erließ. Obwohl Wallfahrten nach scholastischer Theologie "lediglich" von Sündenstrafen befreien konnten, wurde kirchlicherseits den Teilnehmenden der Erlass der Sündenschuld versprochen (siehe den Kreuzzugs-Aufruf von 1096). Überspitzt formuliert: Wer an Wallfahrten teilnimmt, befreit sich damit von aller Sündenschuld.            

Reliquienkult in der römisch-katholischen  Reformbewegung und Gegenreformation

Die sich im Konzil von Trient konstituierende Römisch-Katholische Kirche setzte sich unter anderem auch mit unserem Thema auseinander. Um der protestantischen Kritik wirkungsvoll begegnen zu können, grenzte sich das Konzil 1563 von der problematischen Bedeutungsebene Heiliger Orte und Gegenstände deutlich ab: Nach Tridentinischer Lehrauffassung meint die Verehrung daher nie den Gegenstand an sich, sondern bezieht sich stets auf Jesus Christus selbst. Die Reliquie ist also hinweisendes Symbol, das zum Glauben führen will, nicht aber Gegenstand des Glaubens selbst (Denzinger 986).

Zugleich wurde in Trient der Keim für neue konfessionelle Kämpfe und Auseinandersetzungen mit den Protestanten gelegt. Der Charakter von Wallfahrten änderte sich nämlich, wodurch die protestantische Sicht auf Wallfahrten bis in die Gegenwart hinein belastet werden sollte: Wallfahrten wurden vom Konzil ausdrücklich begrüßt. Doch nun tritt der Bußcharakter einer Wallfahrt, der für das Mittelalter prägend gewesen war, zugunsten des Charakters einer Bittwallfahrt deutlich zurück. Bittwallfahrten, die häufig in Nachbarschaft protestantischer Territorien stattfanden, erhielten auf diese Weise Bekenntnisrang und galten Katholiken wie Protestanten gleichermaßen als kirchenpolitische Glaubensdemonstration eines kämpferischen römischen Katholizismus.   

Belebung der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrten im Fokus der Kirchenpolitik

Die Trierer Heilig-Rock-Wallfahrten spiegeln diese Bedeutungsinhalte wieder: Nachdem von 1512-1517, dann in Abstimmung mit der Aachener Marienwallfahrt in den Jahren 1524,1531,1538 und 1545 regelmäßige Wallfahrten durchgeführt wurden, trug die öffentliche Kritik an Wallfahrten dazu bei, dass diese eingestellt wurden. Im 17. und im 18. Jahrhundert wurde der Heilig-Rock dann auch nur sporadisch gezeigt. Erst im 19. Jahrhundert – 1810, 1844, 1891 – wurde diese Tradition wiederbelebt.

###mehr-artikel###

Gerade diese letztgenannten Wallfahrten belegen ihre starke kirchenpolitische Einbindung. Die Wallfahrt 1844 – neben den Revolutionsereignissen von 1848 die größte deutsche Massenbewegung in der  ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts -, galt einhellig als Protest gegen die preußisch-protestantische Obrigkeit. Während der Wallfahrt von 1891 mit ihren rund 2 Millionen Teilnehmenden stellte sich der Katholizismus als kulturell-politische Macht dar, die siegreich den Kulturkampf gegen die protestantische Mehrheit im Reich bestanden hatte und nun, in Abgrenzung zum Kulturprotestantismus, die sogenannte Katholische Milieubildung entschieden voranzutreiben hatte. 1933 hingegen weckte die Heilig-Rock-Wallfahrt falsche Hoffnungen. Wenige Tage nach dem Abschluss des Reichskonkordates eröffnet, vermittelte die römisch-katholische Kirche den über 2 Millionen Teilnehmenden die – wie sich wenig später herausstellte – falsche Erwartung, dass sie als einzige Konfessionskirche bei Wahrung ihrer kirchlichen Identität und Freiheit zu einer tragfähigen politischen Kooperation mit dem Nationalsozialismus kommen könne.             

1959, im Jahr der ersten Wallfahrt nach dem Krieg, wurden erstmals ökumenische Akzente gesetzt und der Heilige Rock als christologisches Symbol gedeutet: Eine Deutungsebene, die in den beiden Wallfahrten 1996 und 2012 durch die Beteiligung evangelischer Christinnen und Christen verstärkt wurde.

Wallfahrten und Reliquienverehrung aus der Sicht des Luthertums

Martin Luther setzte sich regelmäßig mit dem Thema Heiligenverehrung/Wallfahrten auseinander – mit der Heilig-Rock-Wallfahrt bereits in seiner Adelsdenkschrift von 1520. Darin fällt er ein ausgewogenes Urteil: Wallfahrten seien keinesfalls "böse", sondern ein Ärgernis, wenn sie zu "falschem Wahn und Unverständnis göttlicher Gebote" führen würden. Mit anderen Worten: Luther kritisiert den  Werkgerechtigkeitscharakter von Wallfahrten wie auch die bei zahlreichen Gläubigen damit einhergehende magische Erwartungshaltung scharf.

Die Gründe für seine Kritik wiederholte Luther mehrfach an prominenter Stelle. Unter anderem in den Schmalkaldischen Artikeln begründet er seine Ablehnung von Wallfahrten damit, weil "die Leute ja häufig von Christus weg auf ihre eigenen Werke verfallen und abgöttisch werden sollten" (Von der Messe; vgl. auch die Auslegung zum 4. Gebot im Großen Katechismus).

Diese Überzeugung Luthers wurde im lutherischen Konkordienwerk 1580 ausdrücklich kanonisiert und von der lutherischen Orthodoxie vehement vertreten.

Plurale Ansätze im reformierten Protestantismus

Diese Sicht Luthers wurde von den reformierten Theologen grundsätzlich geteilt: Bereits der ehemalige Priester an einem bedeutenden Marienwallfahrtsort Huldrych Zwingli lehnte scharf jene weit verbreitete Sichtweise ab, die zu einer Werkgerechtigkeit von Wallfahrten führe. Dadurch werde Christus verdrängt (Zwingli, Auslegung der Thesen, 1523). Calvin griff 1543 ein magisches Verständnis von Reliquien an und bezeichnete diese Form der Verehrung als "Götzendienst". Die weitere reformierte Bekenntnisbildung griff diese Position auf und registrierte mit Unbehagen, wie sehr durch das Konzil von Trient Wallfahrten kirchenpolitisch instrumentalisiert wurden (Conf. Gallicana, 1559). 

Doch der Nachfolger Ulrich Zwinglis, der auf Ausgleich bedachte Heinrich Bullinger, zeigte einen möglichen Kompromiss auf. In seiner bedeutenden Bekenntnisschrift "Confessio Helvetica Posterior" von 1566 betonte er, dass die "Heiligenfeste, die wir abgeschafft haben, zudem sehr viel Abgeschmacktes, Unnützes und völlig Unerträgliches" beinhaltet haben (15. Kap.). Bullinger sprach damit die spätmittelalterlichen Interpretationen von Wallfahrten an. Wenn jedoch, so Bullinger weiter, Wallfahrten auf Christus hinweisen und zugleich ihres kämpferischen Bekenntnisaktes entledigt würden, dann könnten diese durchaus zu den als nicht heilsnotwendigen "Mitteldingen" zählen.

Mit Konsequenzen für das Miteinander der Kirchen: Diese Rituale liegen nämlich in der Verantwortung der jeweiligen Konfessionskirche und gelten als nicht kirchentrennend (Art. 17. 27). Doch wichtig sei es dabei, dass Wallfahrten nicht als Bekenntnisplattform einer selbstbewussten Konfessionskirche genutzt werden – denn: "wenn Mitteldinge mit dem  Glaubensbekenntnis verquickt werden, so hören sie auf, frei zu sein." (ebd.) 

Fazit: Wallfahrten, Reliquien und Protestantismus

Die evangelischen Theologen nicht nur der Reformationszeit lehnen ein Wallfahrtsverständnis ab,

- welches ein magisches Denken impliziert;
- die sogenannte Werkgerechtigkeit forciert;
- Christus aus dem Leben der Gläubigen verdrängt;
- und kirchenpolitisch als Ausdrucksform eines kämpferischen Katholizismus verstanden wird.

Diese kritischen Einwände haben bis heute ihre bleibende Bedeutung. Es ist daher im Verlauf der Vorbereitungen und im Kontext der Wallfahrt selbst zu prüfen, ob und in welcher Form diese kritischen Punkte von römisch-katholischer Seite vertreten werden. Wenn solche Tendenzen zu erkennen sind, müssen diese angesprochen werden. Sollten diese kritischen Einwände jedoch ausgeräumt sein, so ergäben sich, ganz im Sinne Bullingers, zahlreiche evangelisch inspirierte Gestaltungsmöglichkeiten einer christuszentrierten Heilig-Rock-Wallfahrt 2012.