Evangelische Kommunität macht Missbrauch öffentlich

Schatten eines Mannes, der die Hand nach einem Kind ausstreckt
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Fast drei Jahrzehnte lang wurde der Missbrauch in der Christusträger-Bruderschaft verschwiegen. Erst jetzt beginnt die Aufarbeitung
Sexualisierte Gewalt
Evangelische Kommunität macht Missbrauch öffentlich
In der evangelischen Kommunität der Christusträger Bruderschaft ist es viele Jahre lang zu schwerem Missbrauch durch eine Leitungsperson und andere Brüder gekommen. Eine Expertengruppe hat die Vorfälle untersucht und nun einen Bericht darüber veröffentlicht. Fast drei Jahrzente lang sei darüber geschwiegen worden.

Die Christusträger Bruderschaft hat einen 99-seitigen Bericht zu jahrelangem sexuellen, geistlichen und Machtmissbrauch in den eigenen Reihen veröffentlicht. Der erste Prior der evangelischen Kommunität, Otto Friedrich, soll sich über Jahrzehnte an Mitbrüdern vergangen und sie zum Teil schwer sexuell missbraucht haben. Andere, teilweise von ihm missbrauchte Brüder wurden später selbst zu Tätern.

Mehr als 25 Jahre lang waren die Vorwürfe in der Kommunität bekannt. Aus Angst und Scham und weil man über die Taten schockiert gewesen sei, habe man so lange geschwiegen, erläuterte Bruder Christian Hauter.

Vor zwei Jahren hatten sich die Christusträger nach eigenen Aussagen dazu durchgerungen, eine externe Aufarbeitung ihrer Geschichte zu diesem Thema anzugehen. Sie setzen eine sogenannte Spurgruppe ein, die in den vergangenen Monaten Unterlagen gesichtet und viele Gespräche mit aktuellen und ehemaligen Brüdern geführt habe.

Ihr Urteil: Man könne das, was überwiegend durch den 2018 verstorbenen Prior Otto geschehen sei, "nur als 'Missbrauchssystem' verstehen", heißt es in dem Bericht, der auch im Internet abrufbar ist. Ein Missbrauchsbetroffener war zum Tatzeitpunkt noch minderjährig, hieß es.

Der Gründer war Haupttäter

Die vierköpfige Spurgruppe bestand aus der ehemaligen Richterin Christa Dreiseitel, der Psychotherapeutin Ilse Hellmann und dem Psychotherapeuten Sebastian Küffner sowie dem früheren Leipziger Superintendenten Martin Henker. Sie hatten 29 ausgetretene und 22 aktuelle Brüder zu Gesprächen über Erlebnisse und Erfahrungen in der Bruderschaft eingeladen - mit 13 von ihnen wurden Gespräche geführt, zwei reagierten schriftlich und drei gaben an, keinen Gesprächsbedarf zu haben. Die anderen antworteten auf die Anfrage nicht. Christian Hauter, der zwischen 2005 und 2020 selbst Prior war, fungierte als Kontaktperson zwischen Spurgruppe und Bruderschaft.

Die Gruppe geht davon aus, dass sich der Gründungs-Prior zwischen 1963 und 1995 an mindestens acht Mitbrüdern vergangen hat. Beinahe immer habe es sich um nicht einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Männern gehandelt, oft verbunden mit geistlichen Handlungen wie Beichten.

Verschweigen gleich Verweigerung

Drei Brüder, teilweise selbst Missbrauchsbetroffene von Friedrich, werden zu Tätern - zuletzt im Jahr 2019. Diesmal sind auch Nichtbrüder betroffen. Zu schwerem Missbrauch kommt es in diesen Fällen offenbar nicht, heißt es in dem Bericht. In allen Fällen wurden Anzeigen oder Selbstanzeigen erstattet, die aber alle ergebnislos eingestellt werden.

Spätestens nach der Absetzung Friedrichs als Prior und seinem Austritt aus der Bruderschaft im Jahr 1996 waren die Missbrauchstaten innerhalb der Christusträger-Gemeinschaft ein "offenes Geheimnis". Das kritisiert die Spurgruppe in ihrem Bericht scharf.

Dies könne "in der Perspektive der Opfer nur als Verweigerung der Aufarbeitung des Geschehens wahrgenommen werden", so das Urteil. In einem ebenfalls am Donnerstag veröffentlichten Brief an den Freundeskreis der Christusträger zu dem Thema heißt es, man habe sich für das Geschehene geschämt und daher jahrelang geschwiegen: "Heute wissen wir, das war ein Fehler."

Das System gestützt

Bruder Christian Hauter sagte, die autoritären Strukturen in den ersten Jahrzehnten der Gemeinschaft seien ihm bei seinem Eintritt zu Beginn der 90er-Jahre durchaus kritisch aufgefallen. Weil damals nicht nur Otto Friedrich, sondern auch andere ältere Brüder dieses System gestützt hätten, habe er es akzeptiert.

Dass es in der Bruderschaft sexuellen Missbrauch gegeben hat, davon habe er nichts mitbekommen. "Sexualität ist jetzt auch nicht die Kernkompetenz von Männern, die in einer zölibatären Gemeinschaft leben", sagte er. Letztlich seien alle Christusträger-Brüder in der Person Otto Friedrichs einem Hochstapler aufgesessen.

Die Christusträger gibt es seit Anfang der 1960er-Jahre. Ihre Wurzeln hat die Kommunität in Südhessen - wie auch die Christusträger Schwesternschaft aus Offenbach. In einer Art christlicher Kommune in Bensheim-Auerbach (Kreis Bergstraße) lebten damals junge Erwachsene miteinander, machten christliche Pop- und Rockmusik und engagierten sich sozial. 1961 wurde ein Verein gegründet, aus dem dann die heute getrennte Bruderschaft und Schwesternschaft hervorgegangen sind.