Predigt von Landesbischof Gerhard Ulrich zum Abschluss der EKD-Synode

Abschlußgottesdinest in der Augustinerkirche in Würzburg
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Landesbischof Gerhard Ulrich hält den Gottesdienst zum Abschluss der Synode der EKD in der Augustinerkirchei n Würzburg.
Predigt von Landesbischof Gerhard Ulrich zum Abschluss der EKD-Synode
"Hinsehen – damit fängt das Reich an. Die Augen nicht abwenden von dieser Welt, denn in ihr ist das Reich", predigt Landesbischof Gerhard Ulrich, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, von Gottes Reich im Abschlussgottesdienst der EKD-Synode 2018.

Lukas 17,20-30

20 Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?,antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.

22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.

23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!

24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

25 Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.

26 Und wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird's auch sein in den Tagen des Menschensohns:

27 Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um.

28 Ebenso, wie es geschah in den Tagen Lots: Sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie erkauften, sie pflanzten, sie bauten;

29 an dem Tage aber, als Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um.

30 Auf diese Weise wird's auch gehen an dem Tage, wenn der Menschensohn wird offenbar werden.

Liebe Synodengemeinde,

"Wir erwarten eine fulminante Predigt von Ihnen", sagte die Präses vor einer Woche.

Fulminant ist eher das Evangelium, das wir gehört haben: wenn der Menschensohn kommt, dann wird es sein wie ein Blitz, wie damals, als die Sintflut alle verschlang und wie damals, als Lot Sodom verließ: "…da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um."

Das steht quer zu allen hoffnungsfrohen Erwartungen, Verheißungen, Bildern.

Fulminanter aber ist noch der Beginn: Jesu Antwort auf die Frage, woran man das denn erkennen könne, welche Zeichen denn nun die wahren seien. Da grätscht er so wunderbar gelassen hinein: Sehet! Das Reich ist mitten unter euch. Jetzt. Angesichts der Welt. Angesichts all der Zerrissenheit auch, des Hasses. Auch darin – gut verborgen: Gegenwart des Reiches.

Das "Sehet" Jesu erschüttert so manche und manchen – angesichts erlittenen Leids und Unrechts auch bei uns in der Kirche.

Die Synode hat eine Woche hinter sich mit schweren Themen, die aufrütteln und manchmal sprachlos machen. Sie hat sich ihrer Schuld und Verantwortung gestellt.

Sie hat auch Ernst gemacht mit der Erinnerungsarbeit, die angesagt war: 80 Jahre nach dem Brand der Synagogen; Ende des 1. Weltkrieges, Sturz des Kaiserreiches, Beginn der Demokratie in diesem Land mit dem Wahlrecht für die Frauen. Nicht nur Gedenken an Schreckliches, Zerstörerisches, sondern auch Erinnern an die Gegenkraft.

Sehet – nicht hier und da. Sehet: wer das Reich mitten unter uns sehen will, muss mitten unter uns hinsehen und nicht aufhören damit, nicht
wegsehen, muss sehen die Welt, die Realität, die Schuld, das Versagen, das gnadenlose Verdrängen. Wie sehr das schmerzt, hat diese Synode gestern erfahren und zum Ausdruck gebracht, als sie sich konfrontiert hat mit sexualisierter Gewalt in unserer Kirche und damit konfrontiert ist mit dem Verrat an dem Reich Gottes, an seinem Frieden. Und auszuhalten wird das nur sein, weil wir glauben und wissen, dass der, der spricht: "Sehet!", selber hinsieht und nicht wegschaut.

Jesus definiert das Reich Gottes nicht. Er erzählt davon.

"Mit dem Reich Gottes ist es wie …" beginnt er und spricht dann von Erfahrungen, die jeder kennt: Der Blick auf den Acker, auf die sprießende Saat. Ein Sauerteig, der wächst und Grundstock für ein wundervollschmackhaftes Brot wird. Brot zum Leben. Immer sprechen diese Gleichnisse vom Leben in Fülle, das nicht irgendwann kommt, sondern bereits beginnt – klein, wie ein Senfkorn.

Das Reich, das in Jesu Wirken beginnt, wird auch das Zukünftige sein, das der Auferstandene als Menschensohn herbeiführen wird. Der Gekommene wird auch der Kommende sein.

Die Zukunft beginnt mit ihm. Ohnmächtige werden erhöht, Mächtige erniedrigt. Nichts wird bleiben wie es ist. Wer hinsieht und das Reich entdeckt hier und jetzt, unter uns, der sieht: wir können auch anders.

In der ersten bei Lukas überlieferten Predigt klingt das Reich Gottes hell auf wie eine Fanfare: Das Evangelium den Armen! Den Gefangenen die Freiheit! Den Blinden das Augenlicht! Die Zerschlagenen entlassen in die Freiheit!

II

Frei sein – heute. Das meint: frei werden von den destruktiven Kräften, die uns beherrschen. Sehen können heute heißt sehen, was wir angerichtet haben. Aber auch: woher die Rettung naht. Und meint ebenso: die endgültige Absage an einen Gott der Vergeltung und seine Helfershelfer. Uns
geschenkte Freiheit, die oft verraten wurde: von einzelnen; von Gruppen; im 20. Jahrhundert von den christlichen Staaten Europas. Vor drei Tagen gedachten wir der 100. Wiederkehr des Waffenstillstands von Compiégne am 11. November 1918, der die Kampfhandlungen des 1. Weltkriegs beendete. Millionen Menschen raubte dieser erste Teil der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts das Leben.

Die Kenntnisse, die wir von den Tagen vor dem 1. Weltkrieg haben, und die Berichte von dem furchtbaren Schlachtenlärm, der dann folgt, scheinen zu der Bildwelt unseres Predigttextes zu passen. "Sie aßen, sie tranken…bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um." Es ist die in den Bildern von Gustav Klimt verewigte Belle Époque, eine faszinierende, unglaublich moderne und zugleich düstere Epoche - das "Fin de Siècle", das "Ende der Epoche": dieses gesamteuropäische kulturelle Lebensgefühl, am Abgrund zu stehen und in ahnungsvoller Ahnungslosigkeit auf Furchtbares zuzugehen.

Spekulanten und Wohlhabende werden reicher, die Armen bleiben arm, in den Metropolen wird rauschhaft gefeiert und fast keiner will sehen, dass es der Tanz auf dem Vulkan wechselseitig ist - bis es dann "Feuer und Schwefel vom Himmel regnet". In einem ständigen "Siehe, da! oder: Siehe, hier!" Sieges- und Friedensversprechen auf allen Seiten gemacht werden, und zur gleichen Zeit "der Blitz" von Feuerwalzen "aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern" und in diesem Artilleriebeschuss alles zermalmt wird.

Nach dem 1. Weltkrieg stehen viele traumatisierte Männer und noch mehr verwaiste Eltern und Geschwister biographisch vor der Aufgabe, diesen Krieg zu verarbeiten. Um nicht zu verzweifeln, verleihen sie diesem sinnlosen Töten einen scheinbaren Sinn. Die Kriegerdenkmäler überall legen davon Zeugnis ab.

1918 waren eine kollektive Umkehr, eine Versöhnung der Nationen und ein europäisches Friedensprojekt nicht möglich. So sehr Europa es da gebraucht hätte: freigeliebt, erlöst, verwandelt zu werden vom Geist Jesu. Beschenkt zu werden mit dem, was wir uns nicht selber geben können. Geheilt zu werden von der Gewalt, die uns beherrscht. Doch die Leiden, die man einander zugefügt hatte, ließen den Sog des Nationalismus nur noch stärker werden und führten über eine aggressive Zwischenkriegszeit – voll von kleineren Kriegen - in die neue, noch umfassendere Katastrophe, die 1939 in einem Reich der Welt, im Deutschen Reich, ihren Ausgang nahm. Als wieder und in noch unvorstellbarerem Maße "Feuer und Schwefel vom Himmel regneten" und Blitze aufblitzten von einem Ende des Himmels zum andern – bis hin zu den furchtbaren Atomblitzen von Nagasaki und Hiroshima.

III

Der unendliche Strahl eines gewaltigen Blitzes, in dem der Menschensohn kommen wird – das ist kein Vernichtungsschlag. Dieses Bild beschreibt die Universalität des Reich Gottes, das der Auferstandene als Menschensohn mit Vollmacht heraufführen wird, das nicht prognostiziert, nicht herbeigebetet und erst recht nicht herbeigebombt werden kann.

Aber das ist zunächst auch auszuhalten: dass Jesus seine Zuhörenden konfrontiert, schonungslos und unverblümt mit der Vergänglichkeit der Welt, unseres Lebens. Die Fülle, aus der ihr lebt, hat ein Ende. Nachhaltigkeit ist hier definiert auf dieser Voraussetzung. Das ist der Resonanzraum, in dem wir glauben, beten, Gottesdienst feiern, Entschließungen und Resolutionen verabschieden und Beschlüsse fassen für die Kirche der Zukunft und indem wir erinnern und uns erinnern lassen an Gottes Wort, an seine Kraft.

Auch darin ist dies eine fulminante Befreiungsgeschichte: nicht wir besorgen den Anbruch des Reiches Gottes. Gott selbst entscheidet über sein Reich und seine Offenbarung. Das macht uns frei davon, selber dafür zu sorgen – und somit Gott zu binden an unsere Bilder, Sehnsüchte, Ängste, Schuld. Das befreit uns, zu schauen nach dem Reich, wie es mitten unter uns ist.

Und noch eine Freiheit sehe ich: wir müssen Gott nicht außen vor halten, wenn diese Welt und Erde taumelt und irrt. Gott ist auch da, wo wir als Sünderinnen und Sünder unterwegs sind. Mitten unter uns. Mitten im Verzagen und Versagen.

Manche tun ja so, als stünde der Untergang unseres Landes direkt bevor, als müsse der Notstand ausgerufen werden angesichts der Zahl der Migrantinnen und Flüchtlinge – ein fulminant schräges Bild.

Und es gibt ja diese Bilder, Zeichen und Spuren realen Todes durch sinnlose, irre Gewalt: die Schilderungen der neuerlichen Angriffe in Israel-Palästina dieser Tage, von Lichtschweifen der Raketen und Abwehrgeschosse, die beide Tod bringen für unschuldige Menschen in ihren Häusern; gnadenlose, hassgesteuerte Angriffswellen und Vergeltungsschläge.

Das Evangelium ist, finde ich, eine Kampfansage an diese gnadenlose Welt und erzählt zugleich von den Geburtswehen einer menschlichen Welt.

Es geht in unserem Predigttext um den Untergang dieser gnadenlosen Welt und den Neuanfang einer Welt wie Gott sie von der Schöpfung her will. Begonnen mitten unter uns. In Jesus ist Gott nicht groß und abstrakt, sondern zum Anfassen nah. Einer, der lässt die – angebliche - Realität nicht so, wie sie ist. Verändert sie. Macht etwas mit ihr. Richtet Gedemütigte auf, spricht Rechtlosen Würde und Rechte zu. Und er nimmt sie alle in die Gemeinschaft mit sich auf. Stellt die Ausgestoßenen in die Mitte. Heilt die durch Krankheit Geschlagenen.

"Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

Kraftvoll in seiner Liebe und Gewaltlosigkeit; stark in seiner Schwachheit. So stark, dass er, mächtiger als die, die ihn ans Kreuz nageln, im Tod nicht festgehalten werden kann.

Lassen wir uns von diesem neuen Bund umarmen, den Jesus mit uns schließen will und setzen wir schon heute auf die Liebe, die keinen Unterschied macht, die heilt, wenn es Not ist! Die sieht in jedem Menschen das Antlitz Gottes selbst und in jeder Not Leidenden den Gekreuzigten Herrn.

Das Kommen des Menschensohnes erinnert uns daran, dass wir für unser Handeln und Wegschauen zur Verantwortung gezogen werden. Wir erinnern an unser Versagen und die Schuldzusammenhänge, in denen wir stehen. Wir erinnern daran, dass in der Perspektive Gottes kein zugefügtes Leid und kein Opfer vergessen wird. Und wir erinnern an die universale Geltung der Menschenrechte und der Würde, die jedem Menschen zukommt.

IV

"…man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch."

Hinsehen – damit fängt das Reich an. Die Augen nicht abwenden von dieser Welt, denn in ihr ist das Reich. Seht: dann sehen wir den, der die Stimme erhebt gegen die Ungerechtigkeit; den, der aufsteht gegen Diskriminierung; der höchst politisch agiert und sich nicht zufriedengibt mit dem, was immer schon so war; den, der die Herzen verändert und regiert; der den Mainstream verlässt.

Ich sehe ihn auch in den vielen jungen Menschen, die auf ihre ganz eigene Weise ihren Glauben leben und in die Welt tragen: ich sehe ihn zum Beispiel in den vielen jungen Menschen, die ich besuchen durfte, die als Freiwillige an die Brennpunkte der Welt sich senden lassen: nach Kapstadt in die townships, nach Palästina, in den Kongo…; ich sehe ihn in den vielen jungen Menschen, die sich beim Klima-Sail für Klimagerechtigkeit einsetzen; ich sehe ihn bei denen, die suchen, nicht fertig sind, die Vorläufigkeit und Chaos nicht für eine Katastrophe halten, sondern für eine Quelle guten Lebens.

Und ich sehe ihn in denen, die unbequeme Fragen stellen, uns herausfordern, Antworten zu finden, nicht nur simple Verweise. Und ich erinnere meine eigene Lebensgeschichte, in der Kirche in meiner Jugend nicht stattfand. Und rückblickend war das auch so ein wunderbares Leben. Und nun weiß ich genau, dass auch damals in meinem Leben der gegenwärtig war, mit dem das Reich mitten unter uns ist und war. Das durfte ich erfahren, weil damals Kirche für mich offen war und neugierig auf mich: eine Gemeinschaft der neugierig Fragenden und Hinsehenden. Und ich bin dankbar, dass ich mit sehen und Teil sein darf der Kirche der Hoffnung, Volk Gottes, das sich wahrhaft auf den Weg macht. Ihm entgegen, der das Reich ist mitten unter uns. Amen.