Ort der Hoffnung

Außenansicht des Auguste-Viktoria-Hospitals auf dem Ölberg in Ost-Jerusalem.
Foto: אורי אלוני [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], from Wikimedia Commons
Außenansicht des Auguste-Viktoria-Hospitals auf dem Ölberg in Ost-Jerusalem.
Ort der Hoffnung
Das Auguste-Viktoria-Hospital versorgt Patienten aus dem Westjordanland und Gaza
Für Krebspatienten aus dem Westjordanland und aus Gaza ist das Auguste-Viktoria-Hospital auf dem Ölberg in Ostjerusalem oft die letzte Rettung: Es ist das einzige palästinensische Krankenhaus, in dem es Bestrahlungsgeräte gibt und das eine individualisierte Krebsbehandlung nach neuesten medizinischen Standards anbietet. Außerdem kommen täglich Familien aus palästinensischen Städten und Dörfern mit ihren Kindern zur ambulanten Dialyse hierher. Die Klinik kooperiert sowohl mit den palästinensischen als auch den israelischen Gesundheitsbehörden.

Sechs Mädchen, Teenager in leuchtend bunten Blusen, Kapuzenshirts oder bequemen Trainingsjacken sitzen auf ihren Betten. Sie kichern, rufen sich durch den Raum etwas zu, versuchen, die Aufmerksamkeit des Arztes zu gewinnen. Aufstehen und herumlaufen können die Mädchen nicht: Über einen kleinen Schlauch sind ihre Arme mit Dialysegeräten neben den Betten verbunden, die Blutwäsche dauert mehrere Stunden. An der Seite der Mädchen sitzen ihre Mütter, manchmal auch noch eine Tante oder die Großmutter.

Die 14-jährige Shirin Kawazbeh und ihre Mutter kommen dreimal in der Woche aus Bethlehem nach Ost-Jerusalem zur Behandlung in das Auguste-Viktoria-Hospital (AVH) auf dem Ölberg. "Das Nervigste daran ist, dass wir dann so früh aufstehen müssen", sagt Shirin. Gegen 6:30 Uhr brechen die beiden auf. Die Klinik bietet für PatientInnen aus dem Westjordanland Transfers an: Kleinbusse, die in Städte und umliegende Dörfer kommen und von dort direkt Richtung Ölberg fahren. Alle PatientInnen und ihre Begleitpersonen benötigen einen permit – eine offizielle Bescheinigung der israelischen Behörden, die ihnen erlaubt, den Checkpoint an der Jerusalemer Stadtgrenze zu passieren.

Die 14-jährige Palästinenserin Shirin Kawazbeh bei der Dialyse im Auguste-Viktoria-Hospital des LWB auf dem Ölberg in Ost-Jerusalem.

Von Bethlehem zum Ölberg sind es zwölf Kilometer, dennoch zieht die Fahrt sich lang hin. Morgens staut sich der Verkehr um die Checkpoints und auf der Hebron Road, die von Süden aus zur Jerusalemer Altstadt führt. Auch die Behandlung im Krankenhaus dauert – mindestens dreieinhalb Stunden. Shirin und ihre Mutter kehren erst am späten Nachmittag nach Hause zurück. Die fünf Geschwister müssen sich dort in der Zwischenzeit allein versorgen. In Bethlehem sowie im gesamten Westjordanland gibt es keine Dialyse speziell für Kinder, diese Behandlung bietet nur das AVH. 26 Prozent der dort behandelten Dialyse-Patienten sind Kinder unter 18 Jahren.

Shirin wird sehr wahrscheinlich ihr Leben lang auf die Dialyse angewiesen sein. "Ihre Nierenfunktion ist stark eingeschränkt, geheilt werden könnte sie nur durch eine Transplantation", erklärt Tareq Muffareh, Arzt in der nephrologischen Kinder-Abteilung. In den letzten vier Jahren litt das Mädchen immer wieder an Seitenschmerzen sowie starken Krämpfen in den Beinen und im Bauchraum. Ihr Blutdruck erhöhte sich stark. Schmerzen habe sie während der Behandlung nicht, sagt Shirin, sie spüre kaum etwas von der Blutwäsche. "Trotzdem weint sie manchmal und möchte nicht schon wieder stundenlang an die Maschine angeschlossen sein", sagt Muffareh. "Sie sagt dann, dass es sie langweile."

Doch es geht nicht nur um Langweile. "Die chronische Erkrankung ist auch eine große seelische Belastung", sagt Yousef al-Dawadeh, der Pfleger auf der Station ist. "Hier im Krankenhaus gibt es eine psychosoziale Betreuung für die Kinder und ihre Familien, um mit der Situation besser zurecht zu kommen." Auch das Pflegepersonal werde regelmäßig psychologisch geschult. Manchmal helfe den Mädchen ein phantasievoller Umgang mit der Situation: "Zum Beispiel stellen wir uns den Dialyse-Apparat als Teil eines Spiels vor oder wir organisieren auf der Station eine kleine Party". Al-Dawadah zeigt ein mit dem Smartphone gefilmtes Video, auf dem Shirin und die anderen Mädchen ausgelassen durch den Raum laufen. "Es ist wichtig, dass sie sich auch wie ganz normale Teenager fühlen können."

Seit November 2016 gibt es auf der Kinderstation des Auguste-Viktoria-Hospitals eine Schule. Hier werden sowohl Kinder und Jugendliche unterrichtet, die wie Shirin und ihre Mitpatientinnen regelmäßig ambulant behandelt werden, als auch junge Krebspatienten, die stationär untergebracht sind. "Die Kinder hier brauchen eine Perspektive für ihre Zukunft", betont al-Dawadeh, "sie sollen nicht aufgrund ihrer Erkrankungen den Unterricht verpassen". Im AVH wird nach Lehrplänen der palästinensischen Schulbehörde unterrichtet: Vier LehrerInnen arbeiten dort in Vollzeit, unterstützt durch freiwillige HelferInnen.

Das Auguste-Viktoria-Hospital hat insgesamt knapp 130 stationäre und etwa 50 ambulante Betten und bietet eine sogenannte tertiäre Versorgung: "Die hoch spezialisierten Gesundheitszentren des Auguste-Viktoria-Hospitals bieten gezielt Untersuchungen und Therapien an, die es in anderen palästinensischen Kliniken nicht gibt", heißt es im aktuellen Jahresbericht der Klinik. Neben der nephrologischen Abteilung sei vor allem das Krebs-Versorgungszentrum eine wichtige Anlaufstelle für Patienten aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Insgesamt 22.349 Bestrahlungen wurden nach Angaben des Berichts 2017 im AVH durchgeführt, in manchen Monaten waren es 70 Behandlungen pro Tag.

Beim Besuch im Krebs-Behandlungszentrum wird schnell deutlich: Die ÄrztInnen und PflegerInnen arbeiten auf Hochtouren, alle Abläufe sind exakt durchgeplant. Denn es gibt derzeit nur zwei Geräte für die Bestrahlungstherapie – das dritte ist in Reparatur. Und das AVH ist das einzige palästinensische Krankenhaus, das überhaupt über Geräte verfügt. Kliniken im Westjordanland oder in Gaza können keine Bestrahlung anbieten. Deswegen kommen die PatientInnen von weit her nach Jerusalem.

Der 58-jährige Hadnan Shalabi ist an Krebs erkrankt und deshalb Patient im Auguste-Viktoria-Hospital in Ost-Jerusalem.

So wie der 58-jährige Hadnan Shalabi, der mit seiner Frau im Flüchtlingscamp Jenin lebt. Die knapp 80 Kilometer lange Strecke nach Jerusalem legt er bis zum Kalandia-Checkpoint bei Ramallah mit dem Auto zurück. Trotz des weiten Weges ist er sehr froh, Patient im AVH zu sein. "Ich fühle mich hier sehr gut betreut und die Bestrahlungen helfen mir", sagt er. "Zwar bin ich durch die Behandlung oft erschöpft, aber bevor ich hierher kam, ging es mir viel schlechter." Im Krankenhaus in Jenin war der Krebs zunächst nicht erkannt worden, schließlich diagnostizierte ein Urologe die schon fortgeschrittene Erkrankung mittels eines Laborbefundes.

"Ich war immer ein sportlicher und gesunder Mensch, ich spiele Fußball", erklärt Shalabi. Der Krebsbefund habe ihn sehr getroffen. In einer Hinsicht hatte er jedoch Glück: Als Angestellter der Stadtverwaltung Jenins ist Shalabi gesetzlich krankenversichert – was in diesem Fall bedeutet: über die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Er und seine Familienmitglieder haben Anspruch darauf, sich in öffentlichen Krankenhäusern im Westjordanland behandeln zu lassen, die Behandlungskosten werden von der Versicherung übernommen.

Hohe Behandlungskosten bei Krebspatienten

Und im Fall einer Krebserkrankung können sich gesetzlich versicherte Palästinenser von einem dieser Krankenhäuser ans Auguste-Viktoria-Hospital überweisen lassen. Allerdings wird jeder einzelne Fall erst von einem Komitee der Gesundheitsbehörde geprüft, denn mit einer Überweisung an das Krebszentrum in Ostjerusalem verpflichtet sich die PA zur Übernahme der Behandlungskosten – und die sind bei Krebspatienten hoch.

Wenn also diese erste bürokratische Hürde genommen ist und das Komitee für die Überweisung plädiert, benötigt der Patient oder die Patientin unbedingt die Genehmigung (permit) der israelischen Behörden, die zum Passieren der Checkpoints Richtung Jerusalem berechtigt. Um das Einholen der permits kümmert sich Ramzi Ja’bari, Mitarbeiter in der Verwaltung des Auguste-Viktoria-Hospitals. Sobald ihm eine Patientenakte mit der Überweisung durch die PA vorliegt, nimmt er Kontakt zu den israelischen Behörden auf.

"Bei Patienten aus dem Westjordanland gibt es keine Probleme, keine Komplikationen", sagt Ja’bari. "Die Behörde für humanitäre Hilfe ist sehr kooperativ, wir arbeiten gut mit dem dortigen Gesundheits-Team zusammen." Die Genehmigungen würden rasch ausgestellt und seien in der Regel drei Monate gültig. Dauert die Behandlung länger, muss Ja’bari rechtzeitig einen neuen permit beantragen. Ganz anders schildert er die Situation für Patienten aus Gaza: "Es ist unglaublich schwierig für die Menschen. Kürzlich durfte eine Mutter ihr schwer krankes Baby nicht ins AHV begleiten, sie wurde als ‚potentiell gefährlich‘ eingestuft, allein deshalb, weil sie eine junge Frau aus Gaza ist", meint Ja’bari. Statt der Mutter begleitete schließlich die Großmutter den drei Monate alten Säugling.

"Wir haben hundert schwer kranke Patienten in Gaza, die keine Genehmigung für die Fahrt nach Jerusalem bekommen." Und wenn ein permit ausgestellt werde, sei dieser oft nur für einen Tag gültig. Gerade für KrebspatientInnen, die an mehreren aufeinander folgenden Tagen zur Bestrahlung oder zur Chemotherapie müssen, ist die Situation immer wieder aufs Neue belastend – und kostet wertvolle Zeit im Kampf gegen die Krankheit.

"Wir lassen die Leute dann eben hier im Hotel übernachten, mit dem das Krankenhaus kooperiert", sagt Ja’bari. Eine heikle Situation: Ohne permit dürften sich Palästinenser aus Gaza oder dem Westjordanland offiziell gar nicht in Ostjerusalem aufhalten. Ja’bari zieht seine Schultern hoch. "Dass so viele Patienten aus Gaza keine Genehmigung bekommen, ist politisch gewollt", sagt er. Über die permits entscheide hier keine humanitäre Einrichtung, sondern der Sprecher einer Militäreinheit – und der wechsle regelmäßig. Einen festen Ansprechpartner hat Ja’bari daher nicht.

Basima Abu Watfa aus Gaza-Stadt lässt sich ebenfalls gegen den Krebs im Auguste-Viktoria-Hospital behandeln.

Basima Abu Watfa (61) aus Gaza-Stadt hat eine Genehmigung bekommen. Und ihr Mann ebenfalls – zumindest für heute. Daher kann er sie in die Klinik begleiten und nach der letzten Chemotherapie-Sitzung im Auto mit nach Hause nehmen. Darüber ist Abu Watfa froh. "Ich bin durch die Behandlung sehr geschwächt", sagt sie. Ihr Blutdruck ist gesunken, die Haare sind ausgefallen und die Haut ihrer Hände ist dunkler geworden. Alle drei Wochen muss Abu Watfa zur Chemotherapie ins Auguste-Viktoria-Hospital kommen: für jeweils drei Tage. Sie übernachtet dann im Patienten-Hotel. Der Weg von Zuhause nach Jerusalem koste Kraft, erklärt sie: "Obwohl ich den permit habe – die Situation am Checkpoint ist manchmal so anstrengend und nervenaufreibend."

Kräftezehrend war auch Abu Watfas Weg ins AHV. Vor anderthalb Jahren spürte sie beim Beten in der Moschee plötzlich einen starken Schmerz im Bein. Sie suchte mehrere Ärzte auf, auch Spezialisten. Keiner von ihnen erkannte, dass Abu Watfa bereits einen aggressiven Tumor hatte. Nach einiger Zeit bildete sich eine große Beule unter ihrer Haut. Zur Computertomographie im Schifa-Krankenhaus in Gaza kam Basimas Tochter Aishe mit, die als Krankenschwester arbeitet. "Als meine Tochter den CT-Scan sah, hat sie geschrien und ist in Tränen ausgebrochen", erinnert sich Basima. Eine Biopsie in der Al-Makassed-Klinik in Ost-Jerusalem wies einen sehr bösartigen Krebs nach, der sich schnell im Körper ausbreitet. "Aber es hat dann drei Wochen gedauert, bis die PA endlich entschieden hat, mich als Patientin ans Auguste-Viktoria-Hospital zu überweisen", berichtet Abu Watfa. "So lange warten zu müssen war ebenfalls nervenaufreibend." Um die bürokratischen Abläufe und die Verhandlungen mit der Gesundheitsbehörde kümmerte sich ihr Mann.

Welche Überlebenschancen haben PatientInnen wie Hadnan Shalabi oder Basima Abu Watfa? Grundsätzlich sei Krebs heute gut beherrschbar, sagt Doktor Yousef Hamamreh, Leiter des Krebs-Behandlungszentrums im AVH. "Die Onkologie macht derzeit so rasche Fortschritte, dass es alle paar Monate neue und bessere Behandlungsmethoden gibt." Bestrahlung und Chemotherapie würden dadurch ergänzt oder sogar ersetzt, erklärt er: "Etwa durch pflanzliche Präparate, vor allem aber durch die Immuntherapie, bei der wir gezielt Antikörper einsetzen, die ausschließlich die Krebszellen und nicht die gesunden Zellen der PatientInnen angreifen."

Zeit bleibe trotz medizinischen Fortschritts ein wichtiger Faktor, stellt Hamamreh klar: "Wichtig ist, dass Krebs früh erkannt wird. Deswegen liegt ein Schwerpunkt unserer Arbeit auf Prävention, insbesondere auf der Brustkrebsvorsorge für Frauen." Hamamreh betont, dass die wissenschaftlichen und medizinischen Standards des Auguste-Viktoria-Hospitals denen israelischer Krankenhäuser entspreche und die israelischen Gesundheitsbehörden mit dem AVH kooperieren. Er selbst hat einige Jahre an der Hadassah-Klinik in Westjerusalem gearbeitet. "90 Prozent unserer ÄrztInnen sind an israelischen Krankenhäusern ausgebildet und wir sind stolz darauf", erklärt er.

Basima Abu Watfa setzt jedenfalls trotz ihrer Diagnose Hoffnung in das Krankenhaus. Durch die Chemotherapie seien die Krebszellen immerhin kleiner geworden, sagt sie. Aber wenn sie darüber nachdenkt, was ihr größter Wunsch für die Zukunft ist, dann denkt sie nicht an sich selbst. Sondern an ihre elf Kinder: Sie hat acht Töchter und drei Söhne. "Mein größter Wunsch ist, dass meine Söhne in Gaza eine Arbeit finden und meine Kinder einmal ein gutes Leben haben werden."