Baltikum: "Wie können wir eine Eskalation verhindern?"

Peace-Symbole auf eine Straße gemalt.
Foto: Getty Images/Stuart Ashley
Baltikum: "Wie können wir eine Eskalation verhindern?"
Im NATO-Russland-Konflikt setzt der EKD-Friedensbeauftragte Renke Brahms auf Mäßigung anstelle von Maximalforderungen
Vor einer Woche hat der NATO-Russland-Rat getagt. Nach langer Sprachlosigkeit zwischen dem westlichen Bündnis und der Führung in Moskau ist der erneute Dialog eine gute Nachricht. Die Kirchen sollten mit helfen, den Konflikt zu entschärfen, findet der EKD-Friedensbeauftragte Renke Brahms.

"Es darf nicht sein, dass eine nach dem Ende des Kalten Krieges überwunden geglaubte Konfrontation in Europa wieder aufbricht", sagten Sie am 20. Juni 2016. Nun ist es doch so: die NATO rüstet im Baltikum auf.

Renke Brahms: Wenn ich mir vorstelle, dass jetzt deutsche Soldaten in Litauen eingesetzt sind, was sehr nah an der russischen Grenze ist, dann schaudert mich, dass es 70 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg so weit kommen konnte. Was momentan schwer wiegt, ist die gegenwärtige Abschreckungstheorie und Sprache. Sie sind die des kalten Krieges. Also, wenn man von Truppenverlegungen hört, von Abschreckung - auch in dem Zusammenhang, dass die NATO-Gipfel-Erklärung das ganze nukleare Potenzial benennt. Nach dem Motto: Wer hier angreift, der muss einen hohen Preis bezahlen. Das sind alles Sprachmuster aus dem Kalten Krieg.

Würden Sie sagen, diese Truppenübungen in den baltischen Ländern sind nötig und gut, nachdem Russland die Krim annektiert hat?

Brahms: Ich kann sehr gut verstehen, dass Polen und die baltischen Staaten aus ihrer geschichtlichen Erfahrung heraus Sorge und Angst haben. Gerade angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und vor allem der Argumentation, die dafür benutzt wurde: dass russische Minderheiten geschützt werden müssen. Denn russische Minderheiten gibt es auch in den baltischen Ländern. Zudem sind diese Länder NATO-Staaten, deswegen gibt es Manöver. Das machen die Russen auf der anderen Seite genauso. Was ich schwierig finde, ist, dass bei diesen Manövern die Ukraine und Georgien eingeladen wurden, daran teilzunehmen. Und in der Vergangenheit war die Teilnahme an solchen Manövern eigentlich immer der erste Schritt zur Aufnahme in die NATO. Deshalb kann ich nachvollziehen, dass Russland das als Bedrohung empfindet; genauso wie die Pläne für eine Raketenabwehr in Polen, in Rumänien steht die Raketenabwehr schon. Auch das kann ich verstehen, dass das als Bedrohung wahrgenommen wird. Wobei ich weit davon entfernt bin, Russland in Schutz zu nehmen. Mit der Ukraine-Politik haben sie es natürlich auch selbst provoziert.

Renke Brahms
Renke Brahms

Renke Brahms (geb. 1956) ist Pastor, Schriftführer der Bremischen Evangelischen Kirche und seit Oktober 2008 erster Friedensbeauftragter des Rates der EKD.

Was ist ihrer Meinung nach passiert, dass es wieder so weit kommen konnte?

Brahms: Ohne das einlinig anzugucken: die NATO-Erweiterung hat eine Rolle gespielt. Zudem, die Politik nach 1990. Wir wollten abrüsten, entkrampfen, auf ein gemeinsames Haus Europa setzen und eigentlich sagen: Es gibt keine NATO-Erweiterung in Richtung Osten, stattdessen sollten die baltischen Länder ein neutraler Puffer sein. Das ist leider nicht weiter verfolgt worden. Von den einzelnen Staaten aus betrachtet ist das sicherlich eine Entwicklung, die man verstehen kann. Sie hat aber dazu geführt, dass es jetzt wieder so eine spannungsgeladene Situation gibt. Und dann kommen natürlich weitere Konflikte hinzu. In Syrien tobt ein Stellvertreter-Krieg zwischen Russland und den USA. Es geht wieder einmal um Einflusssphären.

Vergangene Woche waren EKD-Entsandte beim Petersburger Dialog dabei, der nach vier Jahren Pause endlich wieder stattfand. Welche Haltung sollten die Kirchen im NATO-Russland-Konflikt einnehmen und wie sollten sie handeln?

Brahms: Wir haben als Kirchen zwei Aufgaben. Erstens versuchen wir innerkirchlich und in der Ökumene Gespräche zu führen. Denn es ist ja nicht so, dass sich alle Kirchen einig sind. Da gibt es große Unterschiede in der Haltung in Bezug auf Russland und die Ukraine. Verschiedene orthodoxe Kirchen haben beispielsweise eine sehr stark national orientierte Haltung. Auf der anderen Seite stehen dagegen beispielsweise die EKD und der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK). Wir müssten als Kirchen eigentlich voran gehen und zeigen, dass wir den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Wir müssen miteinander reden und nach einem gemeinsamen christlichen Zeugnis in dieser Situation gucken. Und die zweite Aufgabe ist, sich an den politischen Gesprächen zu beteiligen, wie das jetzt auch im Petersburger Dialog passiert.

"Man sollte versuchen, im Rahmen der EU und der OSZE in Gesprächen voranzukommen und dafür sehr viel Energie aufwenden."

Was ist Ihre Aufgabe als Friedensbeauftragter bei diesem Thema? 

Meine Aufgabe ist, bei innerkirchlichen Diskussionen mit zu beantworten, wie wir uns als Kirche verhalten und welche Position wir einnehmen. Dann lese ich nun das Weißbuch der Bundeswehr und der Militärbischof Sigurd Rink und ich haben Eckpunkte dazu erarbeitet. Im Lichte dieses Weißbuches werden wir unsere Eckpunkte angucken. Da spielt auf jeden Fall der Ukraine-Konflikt eine Rolle: die Positionierung Richtung Osten und Russland.

Welche Rolle spielt ihrer Einschätzung nach die deutsche Politik?

Brahms: Meine Einschätzung ist, dass die deutsche Politik noch zurückhaltend ist. Ich glaube, dass der deutsche Außenminister Steinmeier nicht umsonst im Vorfeld des NATO-Gipfels vor einem Säbelrasseln gewarnt hat. Das ist kein Ausrutscher. Sondern das ist eine deutliche Positionierung. Denn ich kann mir vorstellen, dass es innerhalb der NATO eine sehr viel härtere Linie gibt. Insofern kann man an dieser Stelle auch nur jede Entwicklung und Politik unterstützen, die eher auf Gespräch setzt, als auf Abschreckung. Aber mir scheint bei den Ergebnissen des NATO-Gipfels drängt alles auf Abschreckung. Und deswegen müssen wir alles tun, dass wir eher die unterstützen, die den Dialog suchen.

Trotzdem kann man die Abschreckung doch auch nicht lassen. Oder finden Sie doch?

Brahms: Es ist immer die Frage, mit welchen Signalen man die Eskalation weiter hochtreibt. Und mit jeder Stufe treibt man sie weiter hoch. Das wird zu einer Spirale der Aufrüstung. Man sollte versuchen, im Rahmen der EU und der OSZE in Gesprächen voranzukommen und dafür sehr viel Energie aufwenden.

Wäre es eine bessere Position, man ließe sich Provokationen gefallen?

Brahms: Wir dürfen nicht sagen, es ist uns egal. Aber wir müssen sehr bedacht sein, welche Signale wir jetzt senden. Da bin ich nicht an vorderster Linie und kann deshalb nicht sagen, ob das stattfindet. Der Dialog dafür findet hoffentlich im NATO-Russland-Rat statt, der hoffentlich dafür sorgt, dass kein Konflikt durch irgendeinen Unfall ausgelöst wird, den man nicht mehr einholen kann.

...wie in der Türkei, die im November 2015 einen russischen Kampfjet abschoss, der den türkischen Luftraum verletzt hatte. Zudem verletzen russische Militärflugzeuge wiederholt den Luftraum über der Ostsee.

Wer sind im NATO-Russland-Konflikt die Verbündeten der Kirchen?

Ich glaube, dass in der deutschen Politik viele sind, die Mäßigung unterstützen. Und auch in der Zivilgesellschaft. Wenn ich mir überlege, dass am Rande des Warschau-Gipfels im Juni sich viele Friedensbewegungen aus verschiedenen Ländern getroffen haben, die versuchen ein gegenteiliges Zeichen zu setzen, dann sind das wichtige Signale, die nicht unbedingt mit Maximalforderungen kommen; wie zum Beispiel die NATO abzuschaffen. Die aber sagen, wir müssen auf unserer Ebene, wo es uns möglich ist, den Dialog weiterpflegen. Und das sind ganz viele zivilgesellschaftliche Institutionen und Gruppen.

Macht Ihnen Angst was gerade passiert?

Ja. Es ist ein Zurückkehren bestimmter Bilder. Was kann passieren, wenn der Dialog nicht gelingt? Wenn das gemeinsame Haus Europa nicht im Blick bleibt. Mir geht es nicht um einseitige Schuldzuweisungen, sondern darum zu fragen, wie können wir eine Eskalation verhindern? Wir müssen zudem bedenken, dass die Geschichte die momentane Situation begleitet: die baltischen Länder haben ja auch den Hitler-Stalin-Pakt erlebt, der sie im Stich gelassen hat. Darin liegt eine doppelte Erfahrung, nicht nur die Bedrohung, die von Russland ausgeht. Sie sind auch von Deutschland damals und international im Stich gelassen worden. Deswegen ist das eine besonders empfindliche Situation.