Freilassing schafft das

Foto: Michael Güthlein
Stephan Hohenadl von der Initiative "Freilassing hilft" ist einer von vielen freiwilligen Helfern in Freilassing.
Freilassing schafft das
Ein Besuch an der deutsch-österreichischen Grenze
Zehntausende Flüchtlinge kommen ins Land. "Ströme" oder "Lawinen", sagen manche. Tagtäglich überschlagen sich die Meldungen über Belastungsgrenzen, Limits und Krisen. Trotzdem: Krise? Nicht in Freilassing. Ein Stimmungsbild von einem Ort, wo es trotz Schwierigkeiten läuft.

Scharf zeichnen sich die Silhouetten der Berge am Horizont vom klaren blauen Himmel ab. Kühe fläzen sich auf den immer noch saftig grünen Wiesen. Die Sonne strahlt an diesem 10. November 2015 auf Freilassing, das im idyllischen Berchtesgadener Land liegt. Schilder kündigen den nächsten Seniorenabend an, ein Fahrradfahrer pfeift fröhlich vor sich hin und grüßt: "Servus!" Der Schulbusfahrer verabschiedet die Kinder an der Haltestelle. Ab und zu fliegt ein Flugzeug tief über den Ort. Der Salzburger Flughafen liegt nur einen Steinwurf entfernt, auf der anderen Seite der Saalach. Dort, von wo die Flüchtlinge nach Deutschland kommen.

Freilassing gilt als einer der Brennpunkte in der Flüchtlingskrise. Knapp 1.500 Flüchtlinge passieren täglich die 16.000-Seelen-Gemeinde. Ende Oktober hat der Bürgermeister Josef Flatscher (CSU) einen Brandbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben. "Wir sind schon lange am Limit", hieß es darin. Die Stadt rutsche in eine "Katastrophe". Vor Ort wirkt das anders. Die friedliche Atmosphäre und der Optimismus der Helfer nimmt den drastischen Worten die Kraft. Die Flüchtlingsaufnahme konzentriert sich auf wenige Hotspots in der Stadt. Nachdem die Bundespolizei sie an der Grenzbrücke zu Salzburg in Empfang genommen hat, setzt sich eine wohlgeölte Maschinerie in Gange: Mit Bussen werden sie zur Zwischenunterkunft gebracht, untersucht, registriert, zum Bahnhof gefahren und in andere deutsche Städte weitergeleitet.

Erleichtert sehen sie aus, wenn sie die wenige Meter über das schmale Saalachwehr herübergelaufen kommen. "Hallo", sagen einige, die vorbeilaufen, verlegen grinsend auf Deutsch. Andere starren finster zu Boden oder ziehen ihr Kopftuch vors Gesicht. "Österreich für Deutschland, wir sind bereit für die nächsten zehn", lautet der Funkspruch. Dann laufen Grüppchen von acht bis dreizehn Personen auf der österreichischen Seite los. "Wir trennen keine Familien, deswegen sind es nicht immer genau zehn", erklärt Polizeisprecher Rudolf Höser. Insgesamt fünfzig nimmt die Bundespolizei pro Stunde auf. Nach einigem Ringen mit Österreich konnte man sich auf diese Zahl einigen. Davor waren es manchmal über 200 Menschen.

Eine Flüchtlingsgruppe läuft über das Saalachwehr nach Deutschland.

Von Bundespolizisten in weißen Kitteln und mit Mundschutz werden die Flüchtlinge in Empfang genommen und in grüne Zelte geführt, die stark nach Desinfektionsmittel riechen. Dort durchsuchen die Beamten Männer, Frauen und Kinder getrennt nach Waffen. "Gestern haben wir mal einen Schlagring entdeckt", erzählt Höser. "Eine menschenwürdige Behandlung ist uns wichtig", betont er mehrfach: "Wir führen einen humanitären Einsatz durch." Dieser Einsatz wurde jüngst bis Mitte Februar verlängert. "Von 'Limit' kann man nicht sprechen", stellt Höser fest. "Höchstens individuell." Hin und wieder beobachteten sie Flüchtlingsmütter, die ihre Kinder durch Zwicken zum Weinen bringen, um schneller an die Reihe zu kommen. "Das ist unter diesen extremen Umständen zwar verständlich, aber gerade für weibliche Kollegen, die selbst Mütter sind, auch belastend."

Trotz der Grenzkontrollen rollt stetiger Verkehr über die nahe Saalachbrücke. An der gesamten deutsch-österreichischen Grenze gehen den Polizisten täglich noch etwa vier bis fünf Schleuser mit jeweils zwölf bis 15 Flüchtlingen in die Fänge. "Es lässt natürlich nach", sagt Höser. Gerade zu Stoßzeiten belasten die Kontrollen den Straßenverkehr. Viele Pendler arbeiten in Salzburg oder kommen zum Einkaufen nach Freilassing. Der Einzelhandel leidet, heißt es. Umsatzeinbußen von 40 bis 70 Prozent wurden in Medienberichten genannt.

"Weltuntergang? Naah!"

Mit Bussen fährt die Bundespolizei die Flüchtlinge zur nächsten Station. Anfangs diente eine Turnhalle als zeitweilige Unterkunft. Die war schnell voll. Nun steht ein ehemaliges Möbelhaus zur Verfügung. Knapp 1.200 nebeneinander aufgereihte einfache Pritschen dienen als Schlafplätze.

Flüchtlingsunterkunft in ehemaligem Möbelhaus.

Bei ihrer Ankunft untersucht ein medizinisches Team die Flüchtlinge, insbesondere die "erkennbar Kranken". Merkzettel schmücken die improvisierte, mit Planen abgehängte Krankenstation. Auf Deutsch, Englisch und Arabisch kleben Hinweise an den Wänden. Ein Ausdruck aus dem "refugee phrasebook" hilft bei schnellen Übersetzungen: "Ich habe Durchfall", steht dort zum Beispiel in zig verschiedenen Sprachen. Bei ihrer Ankunft werden die Flüchtlinge per Fast-ID erfasst: Herkunft, Alter und Ziel werden erfragt sowie ihre Fingerabdrücke genommen. Anschließend erhalten sie Armbänder in verschiedenen Farben, die den Helfern die Zeit der Abreise signalisieren.

"Weltuntergang? Naah!", sagt Andreas Bratzdrum, Pressesprecher des Landratsamts Freilassing, während er mit einem Klemmbrett unter dem Arm durch die Unterkunft läuft. Die hilfsbereite Stimmung halte immer noch an. Die hohe Zahl der Flüchtlinge mache ihn nachdenklich, auch wie die Integration erfolgen solle. Eine Riesenaufgabe stünde bevor. "Aber wir arbeiten dran", meint er dann nur knapp.

Kein Grund, Freilassing zu meiden

Die Unterkunft ist eine schlichte, schmucklose Halle mit weißen Wänden. Die Rohre an der Decke liegen offen. Pfützen schimmern hier und da auf dem grauen Betonboden. Auf den Pritschen liegen bunte Decken und Kissen, hier und da ein Kuscheltier – meist Spenden aus der Bevölkerung. Ein kleines Team putzt den Raum provisorisch, bevor die nächste Flüchtlingsgruppe ankommt. Ein Bereich aus Absperrgittern steht mitten im Raum, umgeben von Bierbänken. Hinter den Gittern hängen dort zahlreiche Steckdosenleisten von der Decke zum Aufladen der Handys. "Das ist nach Betten und Toilette die drittwichtigste Einrichtung hier", sagt Bratzdrum und lacht laut auf. Die Essensausgabe organisiert die Bundeswehr. Meistens gibt es Suppen oder Eintöpfe.

Andreas Bratzdrum ist Pressesprecher im Landratsamt und beklagt, dass sein Amt mit der Flüchtlingsversorgung allein gelassen wird.

Täglich koordinieren sich die verschiedenen Hilfsorganisationen, Polizei und Landratsamt. "Viel kriegt man in Freilassing nicht mit von den Flüchtlingen", sagt Bratzdrum. Den Brandbrief des Bürgermeisters erklärt er sich als Sorge um das Image Freilassings. "Die Abläufe sind aber mittlerweile gut koordiniert und der Verkehr läuft", versichert der Pressesprecher und sagt mit Blick auf den klagenden Einzelhandel: "Es gibt keinen Grund mehr, nicht nach Freilassing zu kommen."

Bratzdrum wirkt ein wenig erschöpft, aber dennoch optimistisch. Nur bei einer Angelegenheit wird er ärgerlich: "Mit unseren Kräften aus dem Landkreis kann es so nicht weitergehen." Die Kosten trage zwar der Bund, aber die "Manpower" komme von den lokalen Behörden. Ein Großteil des Landratsamtes sei seit Wochen ausschließlich mit Flüchtlingen beschäftigt. "Da muss der Staat übernehmen, das kann er nicht auf die lokale Ebene abwälzen." Ein Aspekt, mit dem sich schwierig argumentieren lässt, jetzt da alles so gut läuft. "Wir profitieren von der guten Zusammenarbeit der Hilfsorganisationen", sagt Bratzdrum. Waldbrände, Hochwasser, dann 2006 der Einsturz der Eislaufhalle in Bad Reichenhall – im Berchtesgadener Land haben die Hilfskräfte in den vergangen Jahren auf tragische Weise viel Erfahrung gesammelt.

Dabei hat der Landkreis nicht nur den Empfang und die Weiterleitung einer großen Zahl an Flüchtlingen zu schultern, sondern gemäß dem Königsteiner Schlüssel bereits über 1.000 Flüchtlinge dauerhaft aufgenommen. Bis Ende des Jahres sollen 700 weitere folgen. Hier zeigt sich selbst Bratzdrum ernstlich besorgt. "Wenn wir alles mobilisieren kriegen wir vielleicht noch 400 unter", sagt er stirnrunzelnd. "Aber wohin mit dem Rest?"

"Die Hilfsbereitschaft gibt uns einen Schub"

Herbstlaub weht an diesem ungewöhnlich warmen Novembertag über die Straße vor der Flüchtlingsunterkunft. Vor dem ehemaligen Möbelhaus parken mehrere große Busse der Bundespolizei, ein paar Bundeswehrsoldaten unterhalten sich mit Security-Männern und Caritas-Mitarbeitern. Während eine Gruppe Flüchtlinge in dicke Winterkleidung gehüllt mit vollgepackten Taschen von den Polizisten in die Busse delegiert wird, fährt ein älterer Herr mit Hut und Brille auf einem Fahrrad vor und ruft den Helfern in breitem bayerisch zu: "Griasts eich, i hob noch a Paar Winterstiafel!" Er wird nicht der einzige bleiben, der Spenden vorbei bringt an diesem Tag, zwei Monate, nachdem Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Grenzkontrollen angeordnet hat.

Falk Schwenker, ein ehrenamtlicher Helfer der Caritas, nimmt die Spende entgegen. "Das gibt uns immer einen Schub, wenn die Leute immer noch helfen", sagt Schwenker über das konstante Engagement.

Falk Schwenker von der Caritas freut sich über die großzügigen Spenden der Bewohner in Freilassing.

In der Annahmestelle der Caritas stapeln sich die Spenden in hohen Regalen: Decken, Windeln, Winterschuhe, Kuscheltiere. Auch unsinnige Sachen werden vorbeigebracht: "Gestern wollte einer ernsthaft Skischuhe abgeben", murrt eine der Helferinnen.

Die Helfer der Caritas geben in der Unterkunft primär die Kleidung aus oder fahren kranke Flüchtlinge ins nächste Klinikum. "Aber wenn wir Zeit haben, reden wir auch mit den Leuten, spielen mit den Kindern oder trinken zusammen einen Tee", sagt Schwenker. Über Facebook und die Bayernwelle lassen sie die Leute wissen, was vor Ort gebraucht wird. "Natürlich haben wir immer mal wieder Hänger", meint er. "Aber dann sehe ich wie die Kinderaugen leuchten, wenn sie ein Spielzeug bekommen und dann geht’s wieder." Schwenker wird von seinem Arbeitgeber für zwei Tage die Woche freigestellt, um anzupacken, sein Chef spende Geld. "So tut jeder seins", kommentiert Schwenker, der auch an Weihnachten hier sein wird. "Es ist Quatsch, dass die Unterstützung nachlässt oder wir am Limit sind", sagt er in ruhigem, unaufgeregtem Tonfall.

Die Absperrung vor der Unterkunft geht auf, die Busse rollen los. Kaum fünf Minuten später steht der nächste Bus parat, die nächste Gruppe Flüchtlinge kommt aus der Halle, steigt in den Bus und wird zum Bahnhof gefahren. Bevor sie dort in die Züge steigen, versorgen die Freiwilligen der Initiative "Freilassing hilft" die Flüchtlinge mit Lebensmitteln. Die Initiative hat Stephan Hohenadl, zu diesem Zeitpunkt noch Student, Mitte September kurzerhand mit drei Kommilitonen auf die Beine gestellt und über Facebook zur Unterstützung aufgerufen.

Flüchtlinge werden in Bussen zum Bahnhof gebracht.

"Wir arbeiten hier absolut auf Augenhöhe zusammen", schwärmt Hohenadl. Eine Beamtin der Bundespolizei kommt über die Straße geeilt und bringt einen Kuchenbehälter zurück. "Danke, war super!", sagt sie zu einer der Freiwilligen. "Da hatte einer von den Polizisten Geburtstag", meint Hohenadl und nickt Richtung Bahnhof. "Wir kennen uns alle schon persönlich." Mittlerweile arbeitet der 23-Jährige als Hauptamtlicher für die Caritas. Das kam während der Zusammenarbeit für die Flüchtlinge zustande. Seinen Plan, ein Masterstudium anzufangen, hat er dafür vorläufig auf Eis gelegt.

"Als das alles losging, standen wir noch 24/7 am Bahnhof und haben gefroren", erzählt Hohenadl. Inzwischen hat die Freiwilligeninitiative Räumlichkeiten direkt gegenüber des Bahnhofs zur Verfügung gestellt bekommen und arbeitet tagsüber in Schichten. In dem kahlen Raum mit verklebten Schaufenstern reihen sich Einkaufswagen, die bis oben hin mit Lebensmittelpaketen gefüllt sind. Darin enthalten: ein Brötchen, ein Müsliriegel, Obst und gegebenenfalls Süßigkeiten für die Kinder. An der Wand hängen selbstgemalte Plakate mit der Aufschrift "Stilles Wasser geht immer" oder "Banane geht immer". Etwa 80 Prozent der Lebensmittel sind Privatspenden. "Es hat schon nachgelassen", meint Hohenadl. Nicht jeder Haushalt könne pro Woche hundert Euro vorbeibringen. "Aber wir glauben jetzt nicht, dass wir in naher Zukunft Engpässe bekommen", schätzt er. "Überfordert sind wir nicht", sagt er noch: "Die Leute haben eher Spaß, zu helfen."

Eine logistische Meisterleistung und unermüdliches Engagement

Zwei Mal an diesem Tag verlassen die Sonderzüge Freilassing, einer am Nachmittag mit über 700 Menschen, einer in der Nacht mit 450 an Bord. Ein kleiner Bereich wird mit Gittern abgesperrt, wo die Flüchtlinge warten, nachdem sie aus den Bussen gestiegen sind. Durch die Unterführung leiten die Beamten sie zum mit Absperrbändern markierten Gleis und delegieren sie hektisch in die Züge. "Jalla, jalla!", rufen sie ihnen immer wieder zu, "Los, schnell!" Familien mit Kindern und Alten steigen ein, nach kurzer Zeit fährt der Zug ab und verschwindet in der Ferne.

Dass die Aufnahme und der Weitertransport der Flüchtlinge hier funktioniert, ist der Symbiose aus logistischer Meisterleistung und dem unermüdlichen Engagement der Freiwilligen zu verdanken. Was die Menschen in Freilassing bewältigen, ist eine Mammutaufgabe. Aber sie bewältigen sie tatsächlich. Für Hohenadl ist klar: "Wenn man notleidende Menschen sieht, es einem besser geht und man Zeit und Muße hat, sollte sich eigentlich jeder demokratische Bürger aufgerufen fühlen zu helfen."

Kürzlich war die AFD mit 1.000 Demonstranten durch Freilassing marschiert und hat gegen das "Asylchaos" protestiert. "Die kamen aus ganz Bayern, das hat nix mit der lokalen Stimmung zu tun", sagt Andreas Bratzdrum. Falk Schwenker stimmt zu: "Die Freilassinger waren vor allem bei der Gegendemonstration." Er nickt stolz und sagt den Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, der für viele freiwillige Helfer mittlerweile zum Mantra geworden ist: "Wir schaffen das."