"Religion will den Menschen im Herzen berühren"

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"Religion will den Menschen im Herzen berühren"
Im neuen Buch von Mouhanad Khorchide geht es um ein modernes Koranverständnis, um Gott und um die Menschen. "Er liebt sie und sie lieben ihn" zitiert der Islamwissenschaftler eine Sure (5:54). Der Islam dürfe nicht als juristisches Schema missverstanden werden. Unsere Autorin Canan Topçu hat mit Mouhanad Khorchide gesprochen.

Professor Khorchide, Ihr neues Buch heißt "Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus". Schon der Titel sorgt, wie den ersten Reaktionen von Muslimen zu entnehmen ist, für Irritationen...

Mouhanad Khorchide: Das mag an der Mehrdeutigkeit des Wortes "glauben" liegen – wenn ich von Gottes Glauben an den Menschen spreche, dann im Sinne vom "vertrauen", also so, wie wir es in der Religionspädagogik verstehen. Gott vertraut dem Menschen. Man könnte jetzt fragen: Woher wissen wir denn, dass Gott dem Menschen vertraut? Die Antwort ist über unterschiedliche Zugänge möglich. Aus der theologischen Perspektive und aus meiner Perspektive als Gläubiger lautet sie: Gott hat den Menschen nicht erschaffen, um durch den Menschen verherrlicht zu werden. Gott – als vollkommen gedacht – ist nicht auf den Menschen angewiesen, sondern Gott gibt bedingungslos, er will den Menschen daher nicht bevormunden, er hat ihn mit Kompetenzen ausgestattet, dass dieser das Ruder selbst in die Hand nehmen und souverän handeln kann.  

Gott habe den Menschen mit Freiheit und Vernunft ausgestattet, erklären Sie in Ihrem Buch. Und: Gott wolle nicht, dass Menschen dies oder jenes machen, nur um seine Gunst "zu erkaufen". Mit so einer Gottesvorstellung bin ich als Muslima aber nicht aufgewachsen. Mir ist im Religionsunterricht in der Moschee vermittelt worden, dass ich mich auf eine bestimmte Weise zu verhalten habe, um keine Sünde zu begehen, dass ich dies zu machen, jenes zu unterlassen habe, um Allah nicht gegen mich aufzubringen beziehungsweise, damit Gott mir wohlgesonnen ist. Wie entsteht unter Muslimen eine so unterschiedliche Sicht auf Gott?  

Khorchide: Der Islam leidet stark darunter, dass wir Muslime ihn auf eine juristisch normative Ebene reduzieren. Der Gläubige will primär wissen: "Was darf ich, was darf ich nicht?", "Was ist erlaubt, was ist verboten?" Der Koran will aber den Menschen zu einem mündigen Wesen, der seine Religiosität selbst entfaltet, erziehen. Religion will den Menschen im Herzen berühren. Wie kann ich aber Gott lieben und vertrauen, wenn meine Beziehung zu ihm rein über juristische Kategorien definiert wird. Mit Angstpädagogik wollen manche Erzieher schnell zum Ziel kommen, weil sie davon ausgehen, dass es Gott lediglich um das Ausführen von Befehlen geht. Der Koran spricht eine andere Sprache, Gott ist demnach dem Menschen nah und bedingungslos zugewandt, er definiert seine Beziehung zum Menschen über die Kategorie Liebe: "Er liebt sie und sie lieben ihn" (5:54). Diesen liebenden Gott haben wir Muslime leider fast aufgegeben und ihn durch eine Projektion einer Vorstellung eines Stammesvaters ersetzt.   

"Der Koran bietet keine Bedienungsanleitung"

Vernunft und Freiheit – das sind zwei Begriffe, die oft im Buch auftauchen, die aber im Koran so gar nicht vorkämen, wie ein Kritiker Ihnen nach einem Podiumsgespräch über Ihr Buch vorwarf. Wie lautet Ihre Antwort auf solch einen Einwand?  

Khorchide: Auch Begriffe wie Menschenrechte und Demokratie kommen nicht im Koran vor, was nicht heißt, dass sie im Widerspruch zum Geist des Korans stehen. Diese Begriffe und Konzepte kannte man im siebten Jahrhundert nicht. Der Koran spricht aber in einer starken Bildsprache, die decodiert werden muss. So heißt es zum Beispiel, dass Gott Adam alle Namen gelehrt hat, darin sehen die Exegeten einen Hinweis auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Der mehrfache Aufruf des Korans, der Mensch soll über sich und über Naturphänomene nachdenken, ist doch ein Appell an die Vernunft des Menschen. Dass der Koran unterstreicht, dass vor Gott nur die aufrichtige Intention zählt, bedeutet, dass neben der Vernunft Freiheit das höchste Gut ist, das dem Menschen erlaubt, souverän zu handeln und Entscheidungen zu treffen, auch befreit von eigenen Trieben und von allem, was der Blick trüben könnte.

Sie skizzieren auf 270 Seiten das Menschenbild im Koran. Könnten Sie es auch in einem Satz zusammenfassen?

Khorchide: Ich habe es im Buch so formuliert: "Die koranische Botschaft ist unmissverständlich auf Veränderung und Entwicklung des Menschen und des Verständnisses seiner Religion ausgerichtet, nicht auf Stillstand oder Rückwärtsbewegung."

So unmissverständlich scheint diese Botschaft nicht zu sein, wenn wir uns etwa die Auslegung des Korans durch Salafisten und andere Fundamentalisten vergegenwärtigen – und auch der islamistischen Extremisten, die Gewalt anwenden und deren Legitimation im Koran finden. Sie schreiben, dass der Koran an den Menschen appelliere, "seine Vernunft einzusetzen, um seinen Weg zu Gott immer wieder kritisch zu reflektieren und je nach Lebenskontext neu zu beschreiten". Wie erklären sie es sich, dass es muslimische Gruppierungen gibt, die im Koran eine "Bedienungsanleitung" für ihr Leben sehen?

Khorchide: Der Koran selbst bietet keine Bedienungsanleitung. Es waren spätere Bemühungen einiger Muslime, aus dem Islam ein juristisches Schema zu entwerfen. Es gibt Muslime, die sich gegen jegliche Reform verschließen, sie argumentieren im Wesentlichen, unser Verständnis vom Islam sei abgeschlossen – wozu also Reformen? Wozu Aktualisierung? Wozu Veränderung? Spätestens im 9. Jahrhundert sei alles gesagt und niedergeschrieben worden, was zu sagen war, daher bräuchten wir heute nur in den Werken der alten Gelehrten zu suchen und würden dann alle Antworten auf unsere heutigen Fragen finden. Worin unterscheidet sich diese Argumentation von den Argumenten der Gegner aller Propheten, wie sie der Koran zitiert: "Wir bleiben bei dem, was unsere Väter vertreten haben"? Bei vielen Reformverweigerern geht es eher um den Erhalt von Machtpositionen oder um Identitätsverunsicherungen und nicht wirklich um einen theologischen Diskurs.

"Nur weil Menschen aus dem arabischen Raum kommen, heißt es nicht, dass sie per se ein konservatives Islamverständnis haben"

Viele Autoren haben einen imaginierten Leser beziehungsweise eine bestimmte Zielgruppe vor Augen, wenn sie schreiben. Wie ist das bei Ihnen?

Khorchide: Ich schreibe meine Bücher für alle, die am Thema interessiert sind – vor allem aber für Muslime. Weil ich der Ansicht bin, dass wir Muslime über die Frage viel offener nachdenken müssen, wie der Koran und überhaupt der Islam heute zu verstehen ist, um beide aktuell in unserem Leben zu halten. Wir brauchen eine sachliche und mutige innerislamische Debatte – unter anderem über das Gottes- und Menschenbild im Koran. Mir ist es gerade in meinem jüngsten Buch "Gott glaubt an den Menschen" wichtig, all den Muslimen, die sich intellektuell mit ihrer Religion auseinandersetzen möchten, eine Grundlage fürs Nachdenken, Nachlesen in den Quellen und fürs miteinander Diskutieren zu liefern.

Deswegen also die vielen Fußnoten...

Khorchide: An meinem Buch "Islam ist Barmherzigkeit" wurde kritisiert, dass darin kaum Quellen angegeben sind. Das war aber so beabsichtigt, denn das Buch war als "populärwissenschaftlich" konzipiert, um auch möglichst ein breites Publikum zu erreichen. Daher verzichtet es bewusst auf Fußnoten. Diesmal zitiere ich viele Quellen, weil die beiden Themen "Humanismus" und Religion in Verbindung zu bringen keine Selbstverständlichkeit ist, im Gegenteil, diese Verbindung sorgt für Provokation bei vielen Humanisten, aber auch bei religiösen Menschen. Ich sehe dieses Buch als Gesprächsangebot an beide und versuche darin eine Brücke zwischen dem Humanismus und dem Islam zu bauen.

Der Islam beschäftigt die Politik und die Bevölkerung derzeit sehr, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der Großteil der Flüchtlinge aus Syrien kommt, also aus einem muslimischen Land. Einheimische scheinen Angst davor zu haben, dass mit diesen Menschen auch ein Islam einwandert, der mit "unseren Werten" nicht vereinbar ist.

Khorchide: Ich verstehe die Sorgen dieser Menschen. Diese müssen ernst genommen werden. Es macht keinen Sinn, die Probleme zu bagatellisieren. Es kommt darauf an, wie wir in Deutschland auf diese Flüchtlinge ein- und zugehen, wir müssen diese Menschen möglichst rasch in die Gesellschaft eingliedern. Dazu gehört auch, dass wir über Werte sprechen. Reden alleine reicht aber längst nicht. Die von uns hochgeschätzten Werte müssen auch von uns vorbildlich gelebt werden, wir müssen auch Räume schaffen, in denen Flüchtlinge diese Werte, die unsere plurale Gesellschaft zusammenhalten, erfahren. Denn Werte werden nicht von oben vermitteln, sondern von den Subjekten angeeignet. Wenn wir beispielsweise die Menschenwürde als nicht verhandelbaren Wert hochhalten, dann dürfen wir Flüchtlinge nicht menschenunwürdig behandeln.

Was das Islamverständnis der bei uns Zuflucht suchenden Menschen betrifft: Wir wissen noch gar nicht, wie sie wirklich über den Islam denken und wie sie den Islam leben. Es gibt sehr viele Spekulationen, aber keine stichhaltigen Erhebungen. Nur weil diese Menschen aus dem arabischen Raum kommen, heißt es nicht, dass sie per se ein konservatives Islamverständnis haben. Es kann durchaus sein, dass gerade die schlechten Erfahrungen mit dem Islamischen Staat in ihnen den Wunsch nach einer anderen Auslegung des Islams hat entstehen lassen; es kann auch sein, dass viele der Flüchtlinge säkular sind, sich gar nicht als religiös definieren oder sich dem Islam stark verbunden fühlen. Wir sollten nicht pauschalisieren und uns von populistischen Politikern und Panikmachern nicht irritieren lassen.