Angela Merkel und das weinende Mädchen aus dem Libanon

Illustration: evangelisch.de/Simone Sass
Angela Merkel und das weinende Mädchen aus dem Libanon
Angela Merkel hat einen Blick für's große Ganze. Der Blick für das Einzelschicksal geht der Kanzlerin dabei aber manchmal verloren, das zeigt ihre Begegnung mit den Tränen von Reem beim Bürgerdialog mit Schülern. Dabei könnte er helfen, eine menschlichere Politik zu gestalten.

"Das ist manchmal auch hart, Politik", sagt Angela Merkel zu Reem, dem Mädchen aus dem Libanon, das gern in Deutschland studieren würde. "Wir wollen euch nicht in solche Situationen bringen", sagt sie, als Reem anfängt zu weinen, weil sie die Angst vor der Abschiebung jüngst selbst erlebt hat und immer noch damit rechnet, nicht in Deutschland bleiben zu dürfen.

"Gut leben in Deutschland" heißt der Bürgerdialog, auf den sich Angela Merkel eingelassen hat. 29 Schülerinnen und Schüler sprechen mit der Kanzlerin über alle möglichen Dinge, die ihr Leben gut machen oder nicht. Reem, die mit ihrer Familie seit vier Jahren in Deutschland lebt, möchte diese Chance auf ein gutes Leben auch. Sie und ihre Familie können ihre Zukunft nicht planen, sie leben im Ungewissen. Für die junge Frau ist das eine ziemliche Belastung, das erzählt sie der Kanzlerin auch.

Angela Merkel macht keine gute Figur in dem kurzen Clip, der unter dem Hashtag #merkelstreichelt im Netz heftig kritisiert wird. Emotionalität ist nicht so Merkels Sache, das merkt man ganz gut. Ein 16-jähriges Mädchen ist eben kein Meerschweinchen, dessen zitternde Angst man mit dem Ausstrahlen von Ruhe und ganz viel Streicheln wieder wegbekommt. Aber wenn man es sehen möchte, sollte man sich den Ausschnitt im Kontext anschauen (etwas längere Version bei der FAZ, ganzer Dialog bei der Bundesregierung direkt, Minute 38:05 bis 47:10).

Ja, Angela Merkel ist nicht souverän im Umgang mit den Tränen, mit denen sie spontan konfrontiert wird. Wenn man sich das ganze Gespräch anschaut, wird aber deutlich: Sie sucht nach möglichst vielen Informationen, um sich eine Meinung bilden zu können. Sie fragt ganz konkret nach, um die Lage von Reem konkret beurteilen zu können. Kommt sie direkt aus dem Libanon? (Ja.) Wer hat ihr bei der Integration geholfen? (Ihre Lehrer und ihr Sprachtalent.) Hat die Familie ein bewilligtes Aufenthaltsrecht? (Sie warten auf die Entscheidung des Bundesamtes.)

Eigentlich ist Angela Merkel damit eine ungewöhnliche Politikerin. Denn hier wäre eine Gelegenheit gewesen, sich mit einem Einzelfall persönlich zu solidarisieren und ein warmherziges Bild nach außen abzugeben, um zu zeigen: Sie kümmert sich um jede Einzelne. In Wahrheit kann das aber selbst die Kanzlerin nicht, und das sagt sie auch. "Sie ist nicht die einzige, die in einer solchen Situation ist", sagt Angela Merkel über Reem. Der Blick der Kanzlerin umfasst das große Ganze, das ist ihr Job, auch wenn einzelne Menschen darunter leiden.

Immerhin, zwei klare Ansagen macht Angela Merkel. Erstens: Aufenthaltsverfahren in Deutschland dauerten zu lange, die Menschen, die hier herkommen, bräuchten schneller Klarheit über ihren dauerhaften Status. Und zweitens: Deutschland könne nicht alle Flüchtlinge aus dem Libanon und Nordafrika aufnehmen.

Beides ist sicher richtig. Hoffnung auf eine offenere, menschlichere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik macht das trotzdem nicht. Die Tränen von Reem, die sich aus Hoffnungslosigkeit heraus Bahn brechen, trocknet es auch nicht. "Gut leben in Deutschland" sieht anders aus.