Die Augenbinde kann man abnehmen

Foto: Lilith Becker
Die Augenbinde kann man abnehmen
Evangelische Blindenseelsorge
Brigitte Buchsein ist blind, seit sie ein Baby war. Sie kennt es nicht anders. Die Mehrheit der Menschen erblindet hingegen erst im Alter. Ein schmerzhafter Prozess, aber nicht ohne Hoffnung.

Was sie zuerst tun würde, wenn sie sehen könnte, fragt eine Drittklässlerin. "Wenn ich sehen könnte, würde ich mir Gesichter angucken. Zuerst mein eigenes im Spiegel", sagt Brigitte Buchsein. Sie hat rote lockige Haare, ihre Lieblingsfarbe ist grün. In einer Grundschule ihrer Heimatstadt Oberursel berichtet sie im Religionsunterricht aus ihrem Alltag. Die Schüler haben über die biblische Geschichte des Gelähmten aus Kapernaum gesprochen, den Jesus heilte. Nun sprechen sie über den blinden Bartimäus (Markus 10, Vers 46-52).

Es gibt Dinge, die Brigitte Buchsein nicht so gut kann. Unbekannte Orte erreichen, bei Schnee draußen herumlaufen, ein aufwendiges Essen kochen und Actionfilme gucken. Aber es gibt auch vieles, was sie gut kann, was man lernen kann und was trotzdem schön ist. "Das Leben besteht aus mehr als aus Bildern", sagt Brigitte Buchsein. Sie geht deshalb auch gerne ins Kino und ins Theater und hört zu.

Geist der Liebe, der Kraft und der Besonnenheit

Seit ihrem achten Lebensmonat ist sie blind; ihr ganzes bewusstes Leben lang. Sie kennt es nicht anders und hat sich eingerichtet in einer für Sehende beeindruckenden Selbstständigkeit. "Die meisten Menschen erblinden erst im Alter", sagt Brigitte Buchsein. Zu glauben, nicht mehr eigenständig sein zu können, und auf Hilfe angewiesen zu sein, das ist ein Trauerprozess. In einer alternden Gesellschaft wie Deutschland kommt er künftig auf mehr Menschen zu.

Sprechen über Gelähmte und Blinde: Die Häuser von Kapernaum (Markus 2, Vers 27), gebastelt von Drittklässlern der Grundschule am Urselbach, Oberursel

Brigitte Buchsein arbeitet dafür, diesen Trauerprozess zu mildern, ihn erträglich zu machen und zu zeigen: 'Sieh' mal, es geht trotzdem noch einiges.' "Sie ist ein Vorbild", sagt Gerhard Christ, der die evangelische Blindenseelsorge der EKHN in Darmstadt leitet, zusammen mit der Sachbearbeiterin Sibylle Lohnes. Ein Vorbild, das als Ehrenamtliche anderen blinden Menschen Mut macht und schöne Momente für sie mitgestaltet, wie zum Beispiel Studienreisen, die sie gemeinsam mit Gerhard Christ organisiert.

"Gott gab uns nicht einen Geist der Verzagtheit, sondern den Geist der Liebe, der Kraft und der Besonnenheit – 2. Timotheus 1, mein Lieblingsbibelvers", sagt Brigitte Buchsein. "Besonnen bin ich allerdings nicht besonders", sagt sie und lacht. "Dafür habe ich viel Liebe und Kraft." Überhaupt lacht sie viel und gerne und sie redet, schnell. Schnell ist sie auch im Denken, im Handeln, im Anpacken.

Ein Fall ins Dunkle

Als Versicherungsangestellte testet sie Computerprogramme, sie tippt in rasendem Tempo über die Tasten und ihr Computer spricht mit ihr ebenso rasend, für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Brigitte Buchsein ist nicht besonders groß, sie ist zierlich. Ihre Wohnung hat sie in den Farben eingerichtet, von denen eine Farbberaterin ihr sagte, dass sie zu ihr passen; Enzian-blau, terrakottafarben, lindgrün. Außerdem stehen an mehreren Stellen Clown-Puppen mit roten Knubbelnasen.

Nicht farbig hingegen, sondern ein Fall ins Dunkle, ist das Erblinden und führt für manche Menschen in die Depression. "Manchmal rufen uns Angehörige an um Rat und Informationen einzuholen", sagt Gerhard Christ. Entweder fährt er selbst hin und besucht die Menschen Zuhause oder im Krankenhaus und bietet ein Gespräch an. Oder er kümmert sich um Hilfe und Seelsorge vor Ort.

Nöte und Ängste anzuhören, sei oft schon ein guter Anfang, um einem Menschen durch den Trauerprozess zu begleiten. "Ganz wichtig ist das Umfeld", denn entscheidend sei, dass sich ein Mensch Zuhause und möglicherweise in seiner Gemeinde aufgehoben fühlt, sagt Gerhard Christ.

Teilhaben - oder eben nicht

Die evangelische Blindenseelsorge will für eine inklusive Kirche werben. So wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband und der Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen (BSBH) für eine inklusive Gesellschaft werben. Brigitte Buchsein ist Mitglied der "Mitarbeiterkonferenz der Ehrenamtlichen" der evangelischen Blindenseelsorge. Dort arbeitet sie mit anderen Sehbehinderten und Sehenden zusammen. Auch im BSBH arbeitet sie mit. Auf öffentlichen Veranstaltungen, dazu gehören Feste genauso wie Gottesdienste, sollen zukünftig blinde Menschen besser teilhaben können, wünscht sich Brigitte Buchsein.

"Es ist nicht selbstverständlich, dass der Pfarrer im Gottesdienst ein Lied ansagt oder dass auf einer Bühne ein Wort darüber verloren wird, wie sie dekoriert ist", sagt Brigitte Buchsein. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass sehbehinderte Menschen bei Veranstaltungen zu ihrem Platz gebracht werden. Solche Kleinigkeiten sind es, die einen blinden Menschen Teil werden lassen - oder eben nicht. Und daran arbeitet Brigitte Buchsein, seit sie ein kleines Mädchen ist.

Als Sechsjährige kam sie auf ein Internat nach Soest, weg von Zuhause, in Hagen gab es keine Schule für blinde Kinder. Erst ab der zehnten Klasse konnte sie das Gymnasium in ihrer Heimatstadt Hagen besuchen. "Schule ist mir leicht gefallen", sagt sie. Gemeinsam mit den Lehrern entwickelte sie dort die richtige Lern-Umgebung für sich selbst. Anschließend studierte sie erfolgreich Wirtschaftsingenieurwesen in Karlsruhe und Amsterdam.

"Wirklich tolle Strickmuster"

Blinde Menschen sind es oft gewohnt, sich selbst helfen zu müssen - und zwar auch, indem sie andere Menschen um Hilfe bitten. Brigitte Buchsein hat damit keine Probleme. "Ich habe ein großes Netzwerk an Menschen, die ich anrufen kann", sagt sie. Blinde Menschen waren es auch, auf deren Initiative vor 50 Jahren die evangelische Blindenseelsorge der EKHN entstand. "Die Arbeitsstelle Blindenseelsorge ist ein Anker für die Selbsthilfe vor Ort", sagt Gerhard Christ.

Für die Selbsthilfe vor Ort braucht es allerdings auch sehende Menschen, die sich engagieren. Irmela Milch aus Wiesbaden begleitet schon seit mehr als drei Jahrzehnten die Reisen der evangelischen Blindenseelsorge: "Einfach weil es schön ist, was ich erlebe und auch zurückbekomme", sagt Irmela Milch, "einmal habe ich wirklich tolle Strickmuster von einer blinden Frau gelernt". Als Freiwillige plant sie wie Brigitte Buchsein, gemeinsam mit Gerhard Christ, Reisen. "Wir fahren vorher zu den Orten hin und schauen uns die Häuser an", erklärt sie. Sind die Zielorte für Blinde geeignet? Verläuft ein Dachbalken quer durchs Zimmer? Gibt es einen Aufzug, zu viele Stufen?

Blinde oder sehbehinderte Menschen sind unterschiedlich stark auf Hilfe angewiesen. Für Reisen mit der evangelischen Blindenseelsorge bedeutet das: Menschen, die noch vieles selbst können, nur ab und zu mal ein bisschen Hilfe benötigen, für die springt beispielsweise Irmela Milch ein. Sehbehinderte Menschen, die auf ihrer Reise umfangreichere Assistenz benötigen, denen vermittelt die Seelsorge auch einen Ehrenamtlichen, der sich nur um sie kümmert. Einen Teil der Unterbringungskosten für diesen Ehrenamtlichen müssen die Betroffenen selbst aufbringen, einen großen Teil übernimmt jedoch die evangelische Blindenseelsorge.

"Wenn wir eine Kirche besuchen, nehmen wir uns Zeit, ein Modell der Kirche abzutasten oder die Akustik einer Kirche zu genießen", erklärt Brigitte Buchsein. Nicht auf das Sehen kommt es für die schönen Momente an, sondern auf das Wahrnehmen. Die Schüler der dritten Klasse der Grundschule am Urselbach sprechen über Bartimäus, den Blinden, dem Jesus die Augenbinde abnimmt und sagt, er könne wieder sehen. Brigitte Buchsein zeigt, einfach nur, wie sie da sitzt und lacht, wie sie losgeht und macht, tatsächlich: die Augenbinde kann man abnehmen.

(Anmerkung der Redaktion: Der Text ist eine Sendewiederholung vom 26.5.2015)