Zehneinhalb Stunden am Tag

Zehneinhalb Stunden am Tag
... nutzen die Deutschen rein rechnerisch Medien, über neun Stunden lang elektronische. Dazu gibt es sehr viele Zahlen und Erklärungsansätze. Vielleicht wäre es auch einfach gut, etwas weniger Zeit vor großen oder kleinen Bildschirmen zu verbringen.

Konkrete Zahlen zur Mediennutzung faszinieren immer, weil sie die vielen laufenden Entwicklungen greif- und vergleichbar machen. Ein paar Zahlen stehen gerade hier nebenan, etwa was die deutsche Nutzung von Youtube ("rund 31 Millionen monatlich aktive Nutzer") und dem weniger bekannten, dennoch von 2,75 Millionen Deutschen benutzten Videonetzwerk Twitch.tv angeht. Eine besonders große Zahl veröffentlichte Vaunet im Januar. Hinter diesem bemüht lustigen Namen steckt der ehemalige VPRT, der Verband der deutschen Privatsender.

2018 sei "die audiovisuelle Mediennutzung der Deutschen ab 14 Jahren erstmals auf über 9 Stunden pro Tag" gestiegen, errechnete er "auf Basis von Drittquellen". Die imposante Zahl, derzufolge die Deutschen mehr als ein Drittel ihrer Lebenszeit mit elektronisch bewegten oder zumindest tönenden Medien verbringen, setzt sich aus der "täglichen Bewegtbildnutzung" von "insgesamt 5 Stunden und 12 Minuten" und der Audionutzung von 3 Stunden 52 Minuten zusammen.

Allerdings lässt dass das in groben Zügen ähnliches Zahlenmaterial (das von einer durchschnittsdeutschen Gesamt-Fernsehdauer von 217 Minuten täglich ausgeht, während Vaunet auf 234 kommt), auch völlig anders interpretieren – so, dass "beim Großteil der Menschen unter 50 Jahren" der Fernseher ausgeschaltet bleibe (digitalfernsehen.de). Diese Lesart beruht darauf, dass 315 der durchschnittlichen Minuten "auf das Konto der über 50-Jährigen" gingen.

39 Minuten am Tag Zeitung lesen ...

Klar, jede Pressemitteilung rückt die passenden Zahlen in den Blick und nutzt die Interpretationsspielräume, um die Botschaft des Absenders zu transportieren. Beim Vaunet lautet sie: "Audiovisuelle Medien ... haben ... auch gesellschaftlich einen immer höheren Stellenwert. Mit ihren Public Value-Angeboten, fundierten journalistischen Inhalten und einem breiten Spektrum an Unterhaltungsformaten werden sie dieser Verantwortung hervorragend gerecht". Diese Meinung lässt sich sicher vertreten – zumindest so gut wie die, dass es gesellschaftlich schöner wäre, wenn alle Menschen ein paar Minuten weniger auf ihre großen und kleinen Bildschirme schauen würden.

Zu den Vaunet-Zahlen machte sich "epd medien", der Branchendienst aus diesem Haus, den Spaß, noch die nach ähnlichen Methoden errechnete durchschnittliche "Nutzung von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften", also nicht-audiovisuellen Medien dazuzurechnen. Demzufolge nutzen "die Deutschen jeden Tag 10 Stunden und 34 Minuten lang Medien". Denn auch die Zeitungsverlage haben eine rege Interessenvertretung. Vor einem Jahr hatte ihr Bundesverband ermittelt, dass gedruckte Zeitungen ihre "Leserinnen und Leser täglich 39 Minuten in ihren Bann" zögen – vor allem, um für Werbeanzeigen in Zeitungen zu werben. Zugleich ist dem Verband das Kunststück gelungen, zu errechnen, dass "die Gesamtreichweite der Zeitungen" weiter ansteige, obwohl die Gesamtauflage der Zeitungen ja, leider, fällt und fällt.

... und zwei Stunden in Apps verbringen

Nicht nur dem Augenschein in jedem halbwegs öffentlichem Raum, sondern auch härteren Zahlen nach steigt jedenfalls die Nutzungsdauer von Apps auf Smartphones und Tablets. Wobei der Trendbegriff "App" im Grunde für alles verwendet wird, was Nutzer runterladen (oder auf ihren Bildschirmen so fest installiert ist, dass sie es kaum loswerden) können. "Noch nie beschäftigten sich die Nutzer länger mit den mobilen Anwendungen als im vergangenen Jahr", teilte das Portal absatzwirtschaft.de kürzlich mit. "In Deutschland verweilen die Menschen etwas über zwei Stunden am Tag in Apps", entnahm das Portal dieser 160-seitigen Untersuchung (PDF) des "Analyseinstituts AppAnnie".

Dabei handelt es sich um ein Unternehmen aus San Francisco mit vielen weiteren Sitzen zwischen der chinesischen Internet-Hochburg Shenzhen und Berlin. Natürlich verfolgt es, wenn es "194 Milliarden App-Downloads weltweit" errechnet, auch ein Ziel ("Lernen Sie, wie Sie Ihr Unternehmen gemeinsam mit dem Marktführer im Bereich der App-Marktdaten ... voranbringen können"). Es lohnt sich aber, den globalen Report durchzuklicken (oder -wischen), um einen Eindruck von der unglaublichen Angleichung zu bekommen. Die meisten Apps sind überall dieselben. Unter den monatlich genutzten "Top Social & Communication Apps" (S. 48) sind in Deutschland: Whatsapp, Snapchat, Instagram, Facebook und sein Messenger – also vier Marken des Facebook-Konzerns (dem nun sogar das schläfrige Bundeskartellamt eine missbrauchte "marktbeherrschende Stellung" bescheinigt). In kaum einen Land sind nationale Anbieter konkurrenzfähig. Zu den sehr wenigen genannten deutschen Anbietern gehören die Deutsche Bahn mit ihrer "Navigator"-App und bild.de. Medienbeobachter, die sich freuen, wenn die Auflage der "Bild"-Zeitung noch stärker fällt als die vieler anderer Zeitungen, verkennen, dass sie online zu den sehr wenigen reichweitenstarken Medien gehört.

Auch aufschlussreich: wie oft Netflix vorkommt, also der Videoanbieter, der im Prinzip auf allen Bildschirmen inklusive Fernsehgeräten laufen kann und ein wesentlicher Grund für die Bewegtbild-Nutzung vieler jüngerer Menschen ist. Als "App" kann Netflix ebenfalls gelten. Zum Beispiel in den Zügen der Deutschen Bahn, deren Reisenden ja häufig noch mehr Mediennutzungszeit zur Verfügung steht, als sie bei Abfahrt dachten, lässt sich tatsächlich immer mehr Bewegtbildnutzung auf kleinen Bildschirmen beobachten. Wie alle kalifornischen Konzerne veröffentlicht Netflix Zahlen eklektisch, etwa die 139 Millionen zahlende Kunden, die es Ende 2018 hatte, und Abrufquoten von bis zu 80 Millionen (die sich, ungefähr, mit den in deutschen Medien gerne vermeldeten Einschaltquoten vergleichen lassen). Wieviele deutsche Nutzer es hat, ist nicht genau bekannt. Offenkundig ist, dass die Netflix' Ausgaben seine Einnahmen "um drei Milliarden Dollar" überstiegen (dwdl.de).

Datenproduktion erwärmt Ozeane

Damit zu einem kleinen Fazit: Derzeit werden in unglaublichem Ausmaß Medieninhalte sowohl rein rechnerisch genutzt als auch hergestellt. Ökonomisch lässt sich das vor allem dadurch erklären, dass viele Firmen und "Apps" neue Googles und Facebooks werden und in Zukunft ähnlich gewaltige Monopolgewinne machen wollen. Mittelfristig dürften viele, denen das nicht gelungen sein wird, aufgeben. Die gewaltige gemessene Mediennutzung lässt sich ein bisschen durch echten und Zweck-Optimismus der Anbieter erklären – und durch vielfache Parallelnutzung. Radio ist als ideales Nebenbeimedium nicht totzukriegen. Bei der Fernsehnutzung spielt der "Second Screen", ein zugleich (etwa zum Twittern) genutzter zweiter Bildschirm eine Rolle. Vieles im linearen Fernsehen ist längst zu langweilig, um sich lange allein darauf zu konzentrieren. Ob das der ideale Umgang mit den laufenden Entwicklungen ist, ist eine andere Frage.

Ein anderes Fazit zog kürzlich Adrian Lobe in der "Süddeutschen Zeitung". Da plädiert er zunächst dafür, in Internet-Zusammenhängen nicht so viele Naturmetaphern wie "Datensturm" oder "Cloud" zu benutzen, da "das suggeriert, Daten wären eine unbeherrschbare Naturgewalt". Das ist eine legitime Meinung. Andererseits, an Firmenvertretern und Politikern, die gerne suggerieren, all die permanent weiter angehäuften Datenberge seien kein Problem, herrscht auch kein Mangel. Am Ende weist Lobe auf den "ökologischen Fußabdruck" hin, etwa auf

"riesige Rechenzentren, die in der Prärie implantiert werden oder Treibhausgase, die bei jedem Klick im Netz emittiert werden. Der Emissionscharakter ist ja ein doppelter: Zum einen sind es die CO2-Emissionen, die durch den Betrieb von Rechenzentren freigesetzt werden. Zum anderen die Datenemissionen, die bei der Raffinierung von Daten entstehen ..."

und die zu sich erwärmenden Ozeanen beiträgt. Was wiederum die schon angedeutete, einfache Schlussfolgerung ermöglicht: Insgesamt etwas weniger oder wählerischer Zeit vor Bildschirmen zu verbringen (und vielleicht etwas mehr mit Medien, deren Nutzung keine zusätzliche Energie erfordert), wäre nicht schlecht.

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