"Alles hat seine Zeit" – Nur der Pfarrer hat keine?

Nahaufnahme Pfarrerin mit iPad.
Foto: epd-bild/Jens Schulze
Der Pfarrer ist in unserer modernen Gesellschaft auch ein bisschen zum Manager geworden.
"Alles hat seine Zeit" – Nur der Pfarrer hat keine?
Termine, Deadlines, Zeitdruck: Unsere Gesellschaft ist im Geschwindigkeitsrausch. Auch Pfarrer Meinhard merkt, dass Zeit an den wichtigen Stellen des Pfarrberufs fehlt: Mit Menschen leben, ihre Geschichten teilen, aufmerksam zuhören, präsent sein. Das dauert und lässt sich nicht "beschleunigen".

Mainz, 11. Mai 2017. Pfarrer Meinhard hat viel zu tun. Nach dem Gespräch müsse er gleich weiter, ein anderer Termin folgt im Anschluss. Felix Meinhard ist gerade umgezogen und hat die Pfarrstelle gewechselt. Manchmal wünscht er sich, einfach mal Luft holen zu können. Die Zeit auch mal "bewusst zu erleben". Doch seine Realität sieht ganz anders aus: Meistens bleiben dafür nur "fünf Minuten" zwischen zwei Terminen.

Der Pfarrberuf ist oft getaktet und zeitlich eng strukturiert. Trotz der Sonntagsruhe und den Feiertagen gebe es eine große "strukturelle Arbeitsverdichtung", so Meinhard. Frühere Pfarrergenerationen hätten da viel mehr Spielraum gehabt, meint er. Heutzutage seien Pfarrer dazu gezwungen, mit ihrer Zeit hauszuhalten. Alles laufe unter der Prämisse des "Zeitmanagements". Zeit managen? Das klingt eigentlich nach Unternehmertum, Effizienz, Rationalität. Ist der Pfarrer in unserer modernen Gesellschaft zum Manager geworden? Ein bisschen sei es so, sagt Pfarrer Meinhard. "Die ganzen Wirtschaftsbegriffe schwappen auch bei uns rein", da ist er sich sicher.

Schon lange kritisieren Soziologen, dass wirtschaftliches Denken in alle Gesellschaftsbereiche eindringt. Dass dieses Denken auch im Pfarrberuf angekommen ist, findet Meinhard schade. Der Beruf "verliert dann auch eine wichtige Seite", kritisiert er. Gemeint ist der Kern, das Herzstück des Pfarrberufs: Andere Menschen, unsere "Nächsten". "Die Leute wollen nicht, dass man irgendwas runterrattert, sondern, dass man präsent ist", meint Meinhard. Und dafür benötigt er vor allem ausreichend Zeit. Egal ob zur Vorbereitung des Schul- oder Konfirmandenunterrichts, oder der Kasualien: Die Qualität sinkt, wenn man sich als Pfarrer nicht ausführlich vorbereiten kann.

Aber was treibt das geistliche Rad der Beschleunigung an? Warum muss auch der "Pfarrer von nebenan" so schnell sein? "Komplexitätssteigerung" ist für Meinhard die Ursache. "Klar, da steht niemand hinter einem und sagt: Du musst schneller arbeiten!", das weiß auch Felix Meinhard. Er sagt, es sind die "verschiedenen Anforderungen, die moderne Bürokommunikation, die Eventkultur", die alles steigern, verdichten, beschleunigen. Taizé-Andachten, Inselabende, Diskussionsrunden. Das Spektrum an kirchlichen Angeboten hat sich erweitert. Gottesdienste werden zu Events, alles soll perfekt inszeniert sein. Das steigert den Aufwand. Der Pfarrer muss schneller werden, um diese neuen Anforderungen erfüllen zu können. "Wir sind Teil dieser Welt, Teil dieser Beschleunigung", stellt Meinhard fest. Da muss man schon sehr aufpassen, auch mal "aus dem Hamsterrad aussteigen", meint er. "Die Arbeit ist wie ein Wasserfall, und ich kann entscheiden, ob ich mich drunter stelle", findet Meinhard.

"Es gibt massive Veränderungen"

"Stellenabbau, Zusammenlegungen, Fusionen", Meinhard nennt zentrale kirchliche Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts. Wenn man anstatt einer vielleicht zwei oder gar drei Gemeinden betreuen muss, ist es klar, dass man als Pfarrer weniger Zeit hat und den Dingen hinterherrennt. "Das verengt auch Spielräume und Entwicklungsmöglichkeiten für kirchliches Handeln", sagt Pfarrer Meinhard.

Sich auch mal "in Kontexten bewegen, die ganz außerhalb von Kirche sind", darauf komme es ihm an. Er findet es schade, dass sich der Pfarrer-Alltag häufig nur noch auf das "binnen-gemeindliche Umfeld" konzentriere. Es bleibt einfach keine Zeit für Begegnungen, Wahrnehmungen, Kontakte außerhalb von Kirche. Diese Zeit wünscht sich Pfarrer Meinhard.

Vieles hat sich in den letzten Jahren verändert, das Pfarramt ist nicht mehr das gleiche wie vor 20 oder 30 Jahren. Früher habe der Beruf eine starke "seelsorgerliche, politische und zeitungebundene Prägung" gehabt, meint Felix Meinhard. Heute werde sehr oft betont, dass man auch "Personal vorgesetzt ist". Das Unternehmen "Gemeinde" mitsamt Projekten, Veranstaltungen und Events müsse am Laufen gehalten werden. Pfarrer Meinhard findet, dass die Überfülle an Angeboten, die moderne Umtriebigkeit, dazu führt, dass man sich manchmal "von den Menschen entfernt".  

Ist Beschleunigung ein gesellschaftliches Problem?

Pfarrer Meinhard ist kein Einzelfall. "Ich habe keine Zeit" – Kennen Sie diesen Satz? Oder diesen: "Wir reden später, ich muss schnell weiter!". Zeitnot ist eine Volkskrankheit geworden. Fast Food, Speed Dating und sogar Speed Funeral. Wir leben in einer "Beschleunigungsgesellschaft", sagt der in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa. Dabei benennt er die Achillessehne unserer Zeit. Und das obwohl wir doch eigentlich so viel Zeit in den letzten Jahrzehnten gewonnen haben. Flugzeuge verkürzen die Transportzeiten. Wir sparen Zeit beim Schreiben einer E-Mail. Doch wer immer "up to date" sein will, weiß genau: Es bleibt nicht bei einer E-Mail. Durch das Internet kommunizieren wir mehr denn je, Informationen sind allzeit verfügbar: 24/7, grenzenlos. Hier ist Mithalten angesagt. Bloß nicht den Anschluss verlieren. Wir haben immer öfter das Gefühl, "auf rutschenden Abhängen" zu stehen, meint Hartmut Rosa. Der Eindruck "immer schneller laufen zu müssen", um nicht aus dem Spiel auszuscheiden: Allgegenwärtig. Erkrankungen wie Depression, oder Burnout seien die Konsequenz aus diesem "Geschwindigkeitsspiel". Rosa zeichnet ein düsteres Bild der Moderne.

Gibt es keinen Ausweg? Wo ist der Ausstieg aus dem Hamsterrad? Der Wunsch nach Entschleunigung, Zeit und Muße ist oft ein Begleiter der Hetze. Aber wo soll man die Suche nach der "verlorenen Zeit" beginnen? Und wie schafft man es, bei all den rasenden Entwicklungen auf die Bremse zu treten, langsamer zu sein, still zu werden?

"Slow Living" heißt ein Trend aus Amerika, der sich genau das zum Ziel genommen hat: Innehalten, Verweilen. "Was früher glänzte, ist heute matt. Still sein. Still stehen. Still sitzen ist Luxus", sagt der Konsumsoziologe Ragnar Willer. Aber wo findet man heutzutage noch diese Stille?

Zurück zur Tradition

Folgt man der Spur Hartmut Rosas, führt der Weg zur Religion. Schon die Amish-Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten zeigt, dass die Zeit hier stillstehen kann. Und in der Tat: Sie sind abgeschieden und lehnen moderne Technik ab. Das macht das Leben langsamer, "entschleunigter". Vielleicht laufen hier die Uhren anders, stressfrei, immer in Kontakt mit der Ewigkeit, dem Unvergänglichen, mit Gott? "Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden", heißt es schon im Psalter. Aber trifft das auf alle religiösen Menschen zu?

Und wie passt das Thema "Entschleunigung" zum religiösen und beruflichen Leben von Felix Meinhard? War der "Pfarrer von nebenan" nicht auch gehetzt und getrieben, immer unter Zeitdruck?

Da existiert auch eine andere Seite des Pfarrberufs. "Im Hintergrund unseres Berufes gibt es weiterhin eine große spirituelle Ruhe", meint Pfarrer Meinhard. Spuren, die auf einen Ausstieg aus der Beschleunigungsfalle hinweisen: Im Leben eines Pfarrers gibt es auch Seiten, die der allgemeinen Beschleunigung entgegenlaufen.  

Pfarrer Meinhard begrüßt die kirchlichen Anstöße zur Entschleunigung, wie theologische Studientage, oder Sabbattage. "In der Richtung würde ich mir noch mehr wünschen, dass wir aus der Mühle auch mal aussteigen können", sagt Meinhard. Auch evangelische Kampagnen zur Fastenzeit raten dazu, das "Sofort!" wegzulassen, ruhig zu werden, zu entschleunigen.

Im Vergleich zu anderen Berufsfeldern gebe es auch tolle Möglichkeiten, Zeit selbst zu gestalten. In weltlichen Berufen sei Zeit oft viel getakteter, sagt Meinhard. "Ich erlebe das bei den Erzieherinnen, da gibt’s Stundentabellen", sagt er. "Das ist ein Gewinn, dass ich nicht ständig nach Zeit messen muss", freut sich Meinhard. Dabei ist es nur wichtig selbst Grenzen zu setzen. Eine Kirchenvorstandssitzung müsse nicht bis 23:50 Uhr gehen. "Mein Leben hat Grenzen", sagt Felix Meinhard bestimmt. Feste Grenzen. Struktur. Wo findet man das alles im hektischen Alltagsbetrieb des Pfarrberufs?

"Das waren für mich wichtige spirituelle Momente"

Das schwäbische Kloster Kirchberg ist für Pfarrer Meinhard ein Ort der Ruhe, der Stille, der kontemplativen Einkehr: Eine evangelische Kommunität, in der es viermal am Tag Stundengebete gibt. In der festen Struktur des klösterlichen Lebens findet Meinhard seinen Halt, seine persönliche Entschleunigungsoase. Hier wisse er genau: "Die Glocken läuten und ich gehe zur Andacht". Das seien die kleinen Atempausen, schwärmt er. Entschleunigung hat für ihn als Pfarrer auch immer eine religiöse Komponente. Im klösterlichen Rhythmus ist für ihn alles harmonisch und rhythmisch geordnet. "Beten und Arbeiten. Alles hat seinen Platz, aber in Grenzen!", meint Meinhard. "Hier gehe ich ad fontis, also zu meinen eigenen theologischen Quellen", sagt er. Der religiöse Bezug – ein Ausweg aus der Beschleunigungsgesellschaft? "Ich denke, dass der Pfarrberuf da an ganz viel Wertvolles anknüpft. Ob das jetzt eben die monastische Tradition ist, oder auch die Bibel", findet Meinhard.

"Auszeiten und stille Zeiten haben", ist ein zentraler Bestandteil des Berufsverständnisses von Felix Meinhard. Auch wenn das bedeuten kann im Alltagsgeschäft die Bremse zu ziehen. Langsamer zu machen. Und vielleicht auch den eigenen Anspruch an Perfektion über Bord zu werfen.

"Am Ende ist es doch eigentlich so, wie es schon im Prediger heißt", sagt Meinhard. Es gebe für alles seine Zeit: "Eine Zeit zum Feiern, zum Arbeiten, zum Faulenzen, alles soll vorkommen", meint er. Alle Aspekte des Lebens berücksichtigen, Tun und Nichtstun ausbalancieren. Vielleicht ist der Notausgang aus der Beschleunigungsfalle ja ganz nah? Gelassen den eigenen Aufgaben entgegensehen. Eigene Rhythmen pflegen. Balance und Einfachheit ins Leben bringen. Für Felix Meinhard jedenfalls ist es ein Versuch wert.