"Das Scheusal" geht allerdings noch einen Schritt weiter. Der Prolog gibt einen unmissverständlichen Vorgeschmack darauf, dass dieser Film keine fröhliche Unterhaltung sein wird. Die ersten Bilder zeigen eine reizvolle Parallelmontage, die mit Erfolg die Neugier auf die Geschichte weckt: Die Polizei findet eine Leiche, und Wendelin Winter wird mit Gewalt ruhiggestellt; dazu singt Johnny Cash "You’ll Never Walk Alone". Dann erst beginnt die eigentliche Handlung: Winters Tochter Alexandra (Sophie Wepper) will einen Artikel über den inhaftierten Serienmörder Gerd Granitzka, genannt das Scheusal (Felix Vörtler), schreiben. Ihr Patenonkel Konstantin Karoschek (Fred Stillkrauth) war für das psychiatrische Gutachten verantwortlich und stellt den Kontakt zu dem Mörder her. Wendelin Winter ist umgehend fasziniert von dem angeblich psychopathischen Mann, lässt sich die Ermittlungsakten schicken und stößt alsbald auf Ungereimtheiten. Granitzka hat alle Morde gestanden und verfügt über sogenanntes Täterwissen, aber als Winter eine der Taten rekonstruiert, stellt er fest, dass sie sich unmöglich wie vom Mörder beschrieben abgespielt haben kann. Doch bevor er seinem Verdacht weiter nachgehen kann, wird er zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen und ruhiggestellt.
Dank ihrer Faktenvielfalt ist die Geschichte von ähnlich eindrucksvoller Komplexität wie sonst eigentlich nur Romanverfilmungen. Das Drehbuch stammt von Dirk Kämper und Lars Montag, den Autoren der ersten Fälle für Devid Striesow als "Tatort"-Kommissar aus Saarbrücken sowie eines herausragenden Münchener "Polizeirufs" mit Stefanie Stappenbeck ("Die Lücke, die der Teufel lässt", 2010); hier hat Montag ebenfalls Regie geführt. Bei seiner Inszenierung von "Das Scheusal" lässt er mit Hilfe von Bildgestaltung (Wolf Siegelmann) und Musik (Stephan Massimo) von Anfang an keinen Zweifel daran, dass dieser Film nichts mit dem harmlosen Krimizeitvertreib zu tun, für den die Reihe früher stand. Gerade die Akustik bedient sich immer wieder typischer Thriller-Elemente: Ein beharrliches Wummern im Hintergrund verhindert, dass man sich wohlig berieseln lassen kann; gleiches gilt für die geräuschvollen Szenenwechsel. Wie groß der Einfluss der Akustik ist, zeigt sich, als Wendelin und Alexandra Winter den Hochsicherheitstrakt besuchen: Es ist vor allem die Tonspur, die dafür sorgt, dass man die Beklemmungen der jungen Frau gut nachvollziehen kann; kein Wunder, dass sie schließlich die Nerven verliert und den Bereich fluchtartig verlassen muss.
Tilmann P. Gangloff setzt sich seit 40 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei erwachsenen Kindern und lebt am Bodensee. Er war über 30 Jahre lang Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, ist ständiges Mitglied der Jury Kindermedien beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), und 2023 mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet worden.
Abgesehen von wenigen Szenen mit Sophie Wepper verzichtet "Das Scheusal" komplett auf die Leichtigkeit der Anfangsjahre. Die Morde werden zwar nur geschildert, aber die in rascher Schnittfolge gezeigten Polizeifotos genügen, um sich ein Bild von der Grausamkeit der Taten zu machen. Die alptraumartigen Szenen in der Psychiatrie sind nicht minder bedrückend. Wer diesen Film einschaltet, weil Wepper dank Dutzender Komödien und der Serie "Um Himmels Willen" für leichte Unterhaltung steht, wird einen verstörenden Abend erleben.


