Hunderte Jahre am Tag

Hunderte Jahre am Tag
Heute geht es hier um immer schärfere Konkurrenzkämpfe zwischen klassischem und neuem, nichtlinearen Fernsehen, um Zuschauerschwund beim Dschungelcamp, Umverteilung beim Fernseh-Fußball und einige hundert neue Serien.

Ist das lineare Fernsehen auf dem Zenit? Das war vergangene Woche hier die Frage. Jedenfalls ist es es, was den Berg der Inhalte betrifft, die sich ansehen ließen, und bei der Beliebtheit wohl auch noch: Dass die Sehdauer 2017 beim Gesamtpublikum um zwei Durchschnittsminuten am Tag (auf 221) sank, reicht nicht aus, um einen Abwärtstrend zu konstatieren.

Beim Blick auf die Altersgruppen sähe es anders aus. Und ein Umbruch zeigte sich auch beim Deutschen Fernsehpreis: In den Berichten gilt als größter Gewinner "Berlin Babylon" – die Serie, die der Pay-TV-Sender Sky schon längst zeigte und der Koproduzent ARD im Herbst auf einem 20.15 Uhr-Sendeplatz zeigen wird (wobei spannend wird, was dazu aus dem nicht hinreichend jugendfreien Produktion herausgeschnitten wird und ob vielleicht genau solche Schnitte ein Kooperationsmodell darstellen). Zweitgrößter Gewinner ist mit "4 Blocks" eine Produktion des ebenfalls nur gegen zusätzliche Bezahlung zu empfangenden Senders TNT Serie. Womit wohl erstmals in der Geschichte dieses Preises Privatsender mehr Preise als die öffentlich-rechtlichen Anstalten bekamen, wie "Medienkorrespondenz"-Chefredakteur Dieter Anschlag sagt: ARD und ZDF bekamen 16, die privaten 17.

Und das hat wenig mit dem Veranstalterkreis zu tun, dem die Pay-TV-Sender gar nicht angehören. Der Streamingdienst Netflix wiederum, dessen erste deutsche Serie "Dark" für einen Grimmepreis nominiert ist, gehört nicht einmal zum Pay-TV-Komplex, der eher linear sendet.

Sky hatte, solange es unter dem Namen Premiere bekannt war, jahrzehntelang nur davon geredet, Inzwischen produziert es eine Menge deutscher Inhalte, die auch mitunter absurde Wendungen des Geschäfts zeigen. So stellt die Bavaria für Sky eine neue Version der 1980er-Serie "Das Boot" her, was eine gute Idee sein könnte. Schließlich ist Weltkriegs-Action bei Kino- und Computerspiel-Zielgruppen beliebt. Obwohl die Bavaria mehrheitlich eine Tochter von ARD-Anstalten ist, ist das aber keine ARD-Koproduktion. Und obwohl die Bavaria eigene Studios besitzt, dreht sie vor allem in Prag, da dies dank Subventionen (die in Bayern auch fliössen, bloß weniger) günstiger ist.

Umverteilung beim Fernseh-Fußball

"Der Pass" wiederum "ist inspiriert von Motiven des dänisch-schwedischen Erfolgsformats 'Die Brücke – Transit in den Tod' ... Gleichermaßen Thriller wie Drama wirft die Serie auch einen Blick auf das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich", heißt es bei Sky. Wobei diese Ur-"Brücke" eine Koproduktion des ZDF für seine vielen Schwedenkrimi-Sendeplätze war, ohne deutsche Schauspieler, aber international so erfolgreich, dass (mit der deutschen Schauspielerin Diane Krüger) ein US-amerikanisches Remake an der mexikanischen Grenze gedreht wurde, das in Deutschland wie üblich unter dem englischen Originaltitel "The Bridge" lief. Jetzt erreicht diese Idee also deutschsprachige Schauplätze.

Überdies stellt Sky nichtfiktionale Sendungen auf deutsch her, etwa eine neue Version der nach seinen Angaben "weltweit erfolgreichen Musik-Entertainment-Show" "X Factor" (die bei Vox Anfang der 2010er Jahre nicht sehr viel hermachte). Oder "Masterchef". Die Kochshow nach britischem Muster wartet mit Free-TV bekannten Köchen wie Ralf Zacherl und Nelson Müller auf. Wollen die Sky-Abonnenten das sehen?

Zumindest werden sie ab Sommer etwas weniger von dem zu sehen bekommen, wofür viele Kunden Sky abonniert haben: vom Champions League-Fußball. Ab der Saison 2018/19 teilen sich Sky und der Streamingdienst DAZN, der sich gerne "Da-Zone" (englisch) aussprechen lassen möchte, die Fernsehrechte neu auf. Noch wichtiger ist die Neuerung, dass der bislang reichweitenstärkste deutsche Sender dann gar nicht mehr dabei sein wird: das ZDF. Im frei empfangbaren deutschen Fernsehen wird ab Sommer keine Champions League mehr zu sehen sein. Wie das ZDF die langen Fernsehabende, die das UEFA-Konstrukt mit Zusammenfassungen weiterer Spiele im Anschluss an ein Live-Spiel ermöglicht, künftig füllen möchte, wird auch spannend. Bisher zeigte es an fußballfreien Mittwochabenden gerne, was die die ARD mittwochs auch immer zeigt: deutsche Fernsehfilme. Wobei das ZDF wie meistens auf Fernsehkrimis à la "Nord Nord Mord" setzte.

Konkurrenzkämpfe unterschiedlicher Anbieter werden sich 2018 spürbar verschärfen. Dazu bei tragen der organisatorisch immerzu umfirmierte Pay-TV-Konzern Sky (dessen Londoner Zentrale die US-amerikanische Twenty-First Century Fox des Medienmoguls Rupert Murdoch gerade zu schlucken versucht) und DAZN, dessen britischer Eigentümer Perform Group mehrheitlich ebenfalls einem in den USA ansässigen Milliardär gehört, bei.

Schwund beim Dschungelcamp

Und dann gibt's ja noch das klassische deutsche Privatfernsehen mit seinem alten Geschäftsmodell, Geld von Werbekunden zu erhalten, deren Werbung möglichst viele Zuschauer (und möglichst junge, die bis 49-jährigen) sehen sollen. RTL ist mit beinhartes Gewöhnungsfernsehen, das seit fünfzehn ("Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!"), 20 ("Wer wird Millionär?") oder 23 Jahren bewährte Muster fortführt ("Alarm für Cobra 11"), betriebswirtschaftlich erfolgreich. Der Schwund hält sich in Grenzen, etwa im Vergleich mit dem Zeitungsgeschäft. Die gerade zuende gesendete Dschungelcamp-Staffel hatte "rund eine Million Zuschauer weniger ... als noch 2017", aber vielleicht ja nur, weil sie "nicht ekelig genug" war. Und für gute Marktanteile reicht's immer noch.

Mit ein bisschen was Neuem überraschte RTL aucheinerseits mit einer eigenen deutsche Serienoffensive, zu der die (katholische) Pfarrer-Verwechslungs-Kriminalklamotte "Sankt Maik" gehört. Andererseits mit der Ankündigung, noch einen weiteren Free-TV-Sender zu starten. Ist der insgesamt schrumpfende Markt der Zuschauer, die werbefinanziertes Privatfernsehen sehen wollen, denn noch nicht zersplittert genug?

Schon, aber der Hintergrund führt ins nichtlineare Fernsehen, erklärt dwdl.de: Zuletzt

"... blieben zahlreiche eingekaufte Serien-Rechte ungenutzt. Diese sollen nun das Abruf-Angebot TV Now stärken. Der Trick hinter Now US: Viele der eingekauften Programme wurden für die klassische TV-Ausstrahlung erworben. Sie dürfen erst on-demand angeboten werden, wenn die lineare Ausstrahlung erfolgt ist."

500 US-amerikanische Serien im Jahr?

Das heißt, die in Paketen eingekauften Rechte lagen sowieso bei RTL rum und sollen nun wenigstens der nichtlinearen Online-Konkurrenz Marktanteile abjagen. Und das Reservoir an dafür geeignetem Stoff wächst und wächst, wie ebenfalls die Fernsehfüchse von dwdl.de beziffern:

"487 fiktionale Serien wurden in den USA demnach nach einer Auswertung von FX im vergangenen Jahr [2017] produziert, das waren nochmal 32 mehr als 2016. Das stärkste Wachstum gibt's bei den Online-Services (was neben Netflix, Amazon und Hulu unter anderem auch Facebook Watch, Youtube Red oder Sundance Now umfasst). ... Alles in allem hat die Zahl an Serien seit 2012 um satte 69 Prozent zugenommen. Und bislang deutet viel darauf hin, dass der Zenit noch nicht erreicht ist und die 500er-Marke 2018 fallen könnte."

Und für Deutschland wären viele von den 455 im Jahre 2016 produzierten Serien ja auch noch jetzt und 2019 neu ...

Der nonlineare Bereich, auf den RTLs "Now US" vor allem zielt und der für interessierte Zuschauer komfortabler ist, stellt inzwischen auch für die Einnahmen-Giganten ARD und ZDF einen Haupt-Kampfplatz dar. Ob sie mehr von ihren Fernsehsendungen länger in ihren Mediatheken bereithalten können, ist die derzeit wichtigste medienpolitische Frage – und so umstritten, dass die Ministerpräsidenten vergangene Woche die Entscheidung darüber erneut vertagten. Argumente gibt es jeweils viele dafür und dagegen.

"Wenn Sie sich heute vorstellen, Sie haben eine Mediathek mit 300 bis 500 europäischen Dokus – diesen großartigen BBC-Dokus zum Beispiel –, dann entsteht ein öffentlich-rechtlicher kostenfreier oder vermeintlich kostenfreier Player auf dem Markt. Und da kann es in der Tat so weit gehen, dass kleine Sender ernsthaft bedroht sind",

sagte der Chef des Privatsender-Lobby VPRT zur "taz". Die bloß vermeintliche Kostenfreiheit solcher Mediatheken wird von völlig anderer Seite ebenfalls betont:

"Fast immer tragen die Produktionsfirmen und oft genug auch die Kreativen hinter der Kamera mit eigenem Geld und unbezahlter Arbeit dazu bei, dass solche Filme überhaupt entstehen können",

und daher hätten die Dokumentarfilmer, die sich ohnehin und nicht zu Unrecht als Stiefkinder der Öffentlich-Rechtlichen sehen, darunter zu leiden, wenn ihre Filme künftig länger in öffentlich-rechtlichen Mediatheken stünden, schrieb Thomas Frickel von der AG Dok in der "FAZ".

Und dann gibt's ja noch – das ist eines der zentralen Argumente für  öffentlich-rechtliche Mediatheken – Youtube, auf dem so gut wie alles nonlinear abrufbar ist und das Google Einnahmen außer in Form unglaublicher Datenmengen längst auch in Form von Werbegeld einspielt. Youtube "scanne 'Hunderte Jahre' Videomaterial am Tag", hieß es kürzlich in völlig anderem Zusammenhang, aber als krasseste Kennziffer aufschlussreich.

Ein Fazit kann nur ein Zwischenfazit sein: Gerade werden Inhalte in einem Ausmaß wie niemals zuvor hergestellt. Und landen auf einem gewaltigen Berg von weiteren, älteren Inhalten, die tendenziell unendlich abrufbar bleiben werden.

Dass es gar nicht soviele Ideen gibt, ist ein eher kleines Problem. Im Remixen älterer Ideen war Fernsehen aller Art schon immer gut. Größere Probleme: Die Budgets der Zielgruppen – sowohl das finanzielle als auch das reine Zeitbudget – können auf Dauer gar nicht ausreichen, um all das mit Abo-Gebühren oder Aufmerksamkeit für den Werberahmen zu finanzieren. Am Ende der Entwicklung dürfte es daher viele Verlierer geben. Wo genau sich ein Zenit befand, erkennt man immer erst hinterher, wenn er eindeutig überschritten ist.

 

weitere Blogs

Ein mysteriöser Todesfall, das Mauern der Einheimischen und eine latente Homophobie begegnen einer lesbischen Pastorin bei ihrer Ankunft in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aus der Großstadt bringt sie zudem ihre persönlichen Konflikte mit. Beste Zutaten für den Debütroman „In Hinterräumen“ von Katharina Scholz.
Nach 15.000 Kilometern und fünf Monaten ist Leonies Reise vorbei. Was bleibt? In ihrem letzten Blogbeitrag schaut sie auf ihre Erfahrungen zurück.

Vom Versuch nicht zu hassen. Biografische Streiflichter von gestern, das irgendwie auch heute ist.