Gesicht zeigen

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Graffiti mit multiethnischen Gesichtern an Berliner Mauer
©Kerstin Söderblom
"Gesicht zeigen". Blogeintrag von Kerstin Söderblom
185 queere Schauspieler*innen haben sich am 4. Feburar 2021 im Magazin der Süddeutschen Zeitung unter dem Hashtag #actout geoutet. Ein Vorbild auch für queere Christ*innen?

Ich war schon überrascht, dass es queeren Menschen selbst in der scheinbar so liberalen Welt von Kino, Schauspiel, Film und Theater schwerfällt, sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transident oder queer zu outen. Kunst- und Kulturbetrieb sind doch liberale und offene Räume, dachte ich. Und die Menschen, die dort tätig sind, sind doch schon von Berufswegen bunt, schrill und divers. Wo ist das Problem?

Als ich die Interviews mit einigen der queeren Schauspieler*innen im Magazin der Süddeutschen Zeitung gelesen hatte, war ich beeindruckt und frustriert zugleich. Auch in Kunst und Kultur gibt es Konventionen, knallharte Regeln und Grenzen der Offenheit. Nach dem Motto: Wer schwul, bi oder lesbisch lebt, kann doch keinen verheirateten Familienvater oder keine liebevolle Ehefrau und Mutter spielen! Wer schwul oder queer ist, kann doch keinen Spitzensportler darstellen! Und wer trans* ist, passt sowieso nirgendwo. Die können nur ihresgleichen spielen. Solche Sätze hören queere Schauspieler*innen und nehmen sie sich zu Herzen. Auch die 185, die sich nun geoutet haben, hatten das getan.

Was für eine kleinmütige und schäbige Argumentation, dachte ich mir. Und wer im Kinofilm einen Mörder spielt, muss selbst auch schon einmal einen Mord begangen haben? Oder wer einen Junkie darstellt, war selbst schon mal auf Droge?

Ich freute ich mich über die vielen mutigen Schauspieler*innen, die sich endlich getraut hatten, sich zu outen. Allerdings war ihnen klar, dass sie das nur als große Gruppe schaffen würden. Sonst wären die Repressalien für einzelne zu groß. Daher blieb ich bei aller Freude über den gelungenen Öffentlichkeitscoup nach der Lektüre auch ernüchtert zurück.

Die gläsernen Karriere-Decken im Film- und Schauspielgewerbe erschrecken mich. Noch mehr beschäftigt mich die Sorge vieler Darsteller*innen, dass sie negative Sanktionen fürchten, wenn sie sich als queer outen und zeigen. Doppelleben, Schweigen, Weglassen von Informationen und Notlügen sind die Folge. Ist das wirklich noch so? Anscheinend ja, selbst im Kunst- und Kulturbetrieb.

Das ist bitter. Denn es zeigt mir, wo wir gesamtgesellschaftlich im Jahr 2021 stehen. Lesbische, schwule, bisexuelle Sexualitäten und Partnerschaften und nicht binäre Geschlechtsidentitäten sind immer noch nicht selbstverständlich. Im Gegenteil, sie sind immer noch Karriereblocker, Stressauslöser und Grund für Häme, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Selbst in der hochgelobten Filmwelt. Weiter sind wir noch nicht gekommen? Come on!

Der viel zitierte „Minderheitenstress“, wie ihn der US amerikanische Wissenschaftler Ilan H. Meyer bereits 1995 formuliert hatte, schlägt noch immer zu. Erfahrungen von Mobbing, Stigmatisierung und Gewalt sind bei queeren Jugendlichen dreimal so hoch wie bei nicht queeren Jugendlichen. Ebenso Suizidversuche und tatsächlich begangene Selbsttötungen. Verunsicherungen, Scham, Selbsthass, autoaggressive Handlungen bis hin zu Suizid sind die Folgen. Persönlichkeitsentwicklungen verlaufen entsprechend schwierig und konfliktreich. Davon sind Ausbildung, Studium und der Berufseinstieg beeinträchtigt. Sorge vor Repressalien im Berufsleben stellen sich ein. Stress entsteht. Und der drückt sich körperlich und seelisch aus. Zudem ist er meist nicht nur situativ, sondern chronisch. Er hört einfach nicht auf. Denn queere Personen müssen sich ein Leben lang fragen, wem sie was, wann, wie und warum über sich erzählen. Oder ob sie es lassen und damit zulassen, dass sie in heterosexuelle zweigeschlechtliche Schubladen verpackt werden und für jemand gehalten werden, der oder die sie nicht sind.

Wenn das sogar im Kunst- und Kulturbereich so ist, wie sieht es dann erst im religiösen Bereich aus? Zumal bekannt ist, dass homo- und trans*feindliche Haltungen und Äußerungen in einigen religiösen Gemeinschaften besonders ausgeprägt sind. In der römisch katholischen Kirche haben Leitungspersonen immer noch mit Kündigung zu rechnen, wenn sie eine gleichgeschlechtliche Ehe eingehen. Aber auch in den evangelischen Kirchen sind Karriereknicks nicht ausgeschlossen. Wie wäre es also, wenn sich im kirchlichen Bereich 185 queere Personen outen würden?

Als ich mich als junge Theologin und Pfarrerin in den neunziger Jahren vor meinerm ersten Dienstantritt öffentlich als lesbisch outete, wurde ich von meiner Kirchenleitung unterstützt. Das stärkte mich.  Dennoch bekam ich zu hören, dass ich „schwer vermittelbar“ sei. Im Übrigen müsste ich vor Ort in der Gemeinde selbst sehen, wie ich mit Vorurteilen und Verunglimpfungen klarkäme. Das sei eben so, wenn man anders ist. Das wusste ich natürlich selbst. Gerne hätte ich zu der Zeit sympathische und selbstsichere queere Vorbilder in kirchlichen Kreisen gehabt, die selbstverständlich queer und gläubig lebten. Hatte ich aber nicht.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich in kirchlichen Kreisen viel getan. Es gibt in den meisten evangelischen Landeskirchen die Trauung oder zumindest eine Segnungsfeier für gleichgeschlechtliche Paare. Auf evangelisch.de haben Kolleg*innen hier den Stand der Entwicklung in den evangelischen Landeskirchen notiert. Queere Pfarrpersonen und kirchliche Mitarbeitende sind mittlerweile (fast) alltäglich.
In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ist 2015 eine Handreichung für den Umgang mit Trans* Personen erarbeitet worden. Und viele Gemeinden sind offen, gastfreundlich und inklusiv im Hinblick auf queere Menschen, die zu ihnen kommen. Und dennoch, die Sorge vor Streit und Konflikten in Gemeinden halten auch heute noch manche queere Pfarrpersonen und kirchliche Mitarbeitende davon ab, sich öffentlich erkennen zu geben.

Für meine persönliche Entwicklung und auch im Hinblick auf meinen Glauben war es eine  Befreiung, mich in meinem sozialen und auch in meinem beruflichen Umfeld zu zeigen. Klar hatte ich erstmal Schiss vor negativen Reaktionen. Aber die meisten reagierten positiv und unterstützend. Es tat so gut, mich endlich so zu zeigen, wie ich war. Auch mit meiner Partnerin. Als ich mich erst einmal geoutet hatte, musste ich mir auch nicht ständig neu überlegen, was ich wem sage, sondern konnte gelassen von privaten Erlebnissen erzählen, wann immer es eben passte. So müsste es für alle sein. Ist es aber nicht.

Daher brauchen wir diese Bilder wie die 185 Gesichter im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Und wir brauchen weiterhin ermutigende Vorbilder von queeren Personen in allen Berufsgruppen und in allen Teilen des öffentlichen Lebens. In Kunst und Kultur genauso wie in Politik, Bildung, Wirtschaft und im Profisport. In der Politik sind in Deutschland in den letzten Jahren seit Klaus Wowereit im Jahr 2001 als Berliner Oberbürgermeister den Anfang gemacht hatte mit dem viral gegangenen Satz "Ich bin schwul und das ist auch gut so!" schon einige nachgefolgt und haben sich geoutet.

Aber es stehen noch viele Berufs- und Lebensbereiche aus. Gerade im männlichen Profifußball warten viele schon lange drauf, dass sich Fußballer outen. Aber außer Thomas Hitzelsperger, der sich erst nach seiner Zeit als aktiver Profi 2014 outete, hat es in Deutschland immer noch niemand getan. Die meisten Berater*innen raten den Profis auch weiterhin davon ab. Zu groß ist die Angst vor Mobbing, Rufschädigung, Sponsorenverlust, Karriereknick und sozialer Ausgrenzung. Was für ein Armutszeugnis!

Vielleicht können sich dann doch als nächste queere Personen im kirchlichen Bereich trauen und den Schauspieler*innen mutig nachfolgen? Wenn sie es nicht vereinzelt tun, kann ihnen doch eigentlich nichts passieren. Oder wollen Landeskirchen, Bischöfe und Diözesen tatsächlich 185 kirchliche Mitarbeitende entlassen, nur weil sie queer sind? Schwer vorstellbar.

Ich kenne aus der queersensiblen Seelsorge- und Beratungsarbeit an den Hochschulen in Mainz und bundesweit viele Jugendliche und junge Menschen, die auf der Suche sind nach religiösen Orten, an denen sie queer und religiös, schwul und spirituell, trans* und gläubig, lesbisch und spirituell suchend sein dürfen. Sichere und queerfreundliche Orte in Kirchengemeinden und religiösen Gemeinschaften sollten selbstverständlich sein. Sie sind es aber immer noch nicht. Religiöse Gemeinschaften könnten hier deutliche Zeichen für Respekt und Anerkennung setzen und sich gegen Hass und Ausgrenzung aussprechen. Dann würden sich vermutlich auch mehr queere haupt- und ehrenamtlich Aktive in den Kirchen zeigen.

185 queere kirchliche Mitarbeitende, vielleicht mehr vielleicht weniger, outen sich auf dem Cover des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Das wäre doch mal was!

Literatur:

Emcke, Carolin/Fritzsche, Lara (2021), "Wir sind schon da!" Interviews von Carolin Emcke und Lara Fritzsche, Magazin der Süddeutschen Zeitung, Heft 5/2021 (4.02.2021)

Meyer, Ilan H. (2003). "Vorurteile, sozialer Stress und psychische Gesundheit in lesbischen, schwulen und bisexuellen Bevölkerungsgruppen: Konzeptionelle Probleme und Forschungsergebnisse." Psychologisches Bulletin 129; 674-697.

EKHN (Hg.), Zum Bilde Gottes geschaffen.Transsexualität in der Kirche (1919, 3. Aufl 
 

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