"Die Sonne hat auf uns geschienen!"

"Die Sonne hat auf uns geschienen!"
Irène Schwyn
Foto: privat
Irène Schwyn
Irène Schwyn ist Gemeindepfarrerin der Reformierten Kirche in Zug in der Schweiz. Bis Mai 2017 war sie Sekretärin im ehrenamtlichen Vorstand des Europäischen Forums christlicher Lesben-, Schwulen-, Bi- und Trans-Gruppen. In diesem Interview blickt sie zurück auf ihre Amtszeit als Sekretärin und auf die letzte Jahrestagung in Gdansk/Polen vom 24.-28. Mai.

Kerstin Söderblom: Du warst bis zur Jahrestagung im Mai 2017 Sekretärin des Europäischen Forums christlicher Lesben-, Schwulen-, Bi- und Trans-Gruppen (EF). Was ist deine persönliche Bilanz deiner Arbeit? 

Irène Schwyn: Die Zeit im Vorstand war sehr bereichernd. Dass ich mit meinem beruflichen Hintergrund und meinen organisatorischen Fähigkeiten zum Zuge kommen würde, hatte ich zum Voraus gewusst, in Bezug auf europäische Institutionen, Nichtregierungsorganisations- (NGO) Management oder Mitarbeiterführung war es ein Sprung ins kalte Wasser, der sich gelohnt hat. Ich habe viel gelernt.

Der Umbauprozess ist allerdings noch im Gange. Einerseits verändern sich Rollen, Aufgaben, Strukturen und Kommunikationswege; sich immer wieder im ganzen EF darüber zu verständigen, was wichtig und was machbar ist, bleibt eine Herausforderung. In dieser Umbauphase ist auch die Arbeitsbelastung des Vorstandes sehr hoch. Ich habe sicher einen Tag pro Woche für das EF gearbeitet. Viele Menschen können nicht so viel Freiwilligenarbeit leisten, damit sind diverse gute Leute von der Vorstandstätigkeit ausgeschlossen. Wenn ich aber miterlebe, wie dank der Veränderungen Projekte, die früher ein Wunschtraum waren, nun realisiert werden, hat es sich gelohnt.

 

Kerstin Söderblom: Wie hast du persönlich die EF Tagung in Gdansk erlebt?

Irène Schwyn: Die Sonne hat auf uns geschienen – anders kann ich fünf intensive, berührende und wunderbare Tage nicht in wenigen Worten zusammenfassen.

Kerstin Söderblom: Was waren inhaltliche Schwerpunkte des Treffens?

Irène Schwyn: "Vorwärts in Solidarität" lautete das Motto der Tagung, in Anlehnung an die Gewerkschaftsbewegung der 80er Jahre. Zeitgleich und verbunden mit der Tagung war die "Gdansk-Equality-Week". Im Konferenzzentrum auf dem Gelände der ehemaligen Werft fanden Teile des Programms statt. Darunter auch ein Film über Ewa Hołuska, eine ehemalige Anführerin der Solidarnośċ - Untergrundbewegung. Sie ist heute Mitglied von "Wiara i Tęcza" (Glaube und Regenbogen), und nahm an der ganzen Tagung teil. Sie darüber sprechen zu hören, wie ihr Glaube ihr in der Haft geholfen hat, war sehr bewegend. Allerdings: wer sie in zeitgenössischen Dokumenten über die Solidarnośċ sucht, wird vermutlich nicht fündig. Bei ihrer Geburt wurde sie als Junge identifiziert, und historische Dokumente beziehen sich auf den ihr zugeteilten männlichen Namen. Durch den Film über sie und Gespräche mit ihr und anderen polnischen Tagungsteilnehmenden lernte ich viel darüber, wie sehr die Geschichte von Solidarnośċ auch die Geschichte von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen (LSBT) Menschen ist – und wie schwierig es ist mitzuerleben, wie ehemalige Kampfgefährten homo- und transfeindliche Parolen rufen.

Was die Arbeit des EF betrifft: Auf der politischen Bühne hat das Europäische Forum seit letztem Jahr den Status einer internationalen Nichtregierungsorganisation und damit Zugang zum Parlamentsbetrieb des Europarats. Die eigentliche Vernetzungs- und Lobbyarbeit beginnt damit erst. Ein relativ neuer, aber wichtiger Fokus ist das Entwickeln einer Gegenstrategie zur Anti-Gender Bewegung, einer international aktiven neo-konservativen Denk- und Politikströmung, die in Zentraleuropa bedrohlich viel Einfluss gewonnen hat, sich aber auch in der Schweiz z.B. mit der zum Glück verworfenen Ehedefinition bemerkbar gemacht hat, die in eine Steuergesetzvorlage geschmuggelt wurde.
Im kirchlichen Umfeld sind drei Arbeitsgruppen des EF aktiv, die langjährigste davon konzentriert sich auf den Ökumenischen Rat der Kirchen, eine zweite auf die römisch-katholische Kirche, und die jüngste auf die orthodoxen Kirchen. 

Intern bricht die Frage der Geschlechterbalance neu auf. Wie verbindet man geschlechtergerechte Positionen mit einer nicht-binären Geschlechterdefinition? Dazu kenne ich zwar theoretische Ansätze, die praktische Umsetzung innerhalb der Organisation muss das EF aber noch erarbeiten.

Kerstin Söderblom: Was war dein persönlicher Höhepunkt der Tagung?

Irène Schwyn: Schwierig, etwas herauszupflücken. Für mich war vor allem das Beisammensein und die Gemeinschaft wichtig. Unter so vielen christlichen Aktivistinnen und Aktivisten entsteht ein ganz besonderer Drive, von dem ich jetzt noch, Wochen später, zehre.

Kerstin Söderblom: Welche Bedeutung hatte es,  dass ihr beim "Gdanks-Equality-March" mitgelaufen seid?

Irène Schwyn: Als lesbische, schwule, bi- und transsexuelle Christinnen und Christen so zahlreich sichtbar zu sein, war in diesem Umfeld, in dem Homofeindlichkeit oft „christlich“ begründet und legitimiert wird, wichtig und hat auch Medieninteresse ausgelöst.
Die Organisation des Marsches war eine Herausforderung, da eine fanatisch homophobe Parlamentarierin im Namen des Christentums rund 50 Gegendemonstrationen anmeldete, welche die ursprüngliche Route blockierten. Am Schluss nahmen an den Gegendemonstrationen zusammengezählt weniger als hundert Personen teil, gegenüber 3000 - 5000 Teilnehmenden des Equality March. Es waren auch mit dem EF und anderen Gruppen mehr explizit christliche LSBT da als Gegendemonstranten. Ein riesiges Polizeiaufgebot trennte die beiden Gruppen. Für die Teilnehmenden aus Westeuropa war es eindrücklich zu erleben, dass der Polizeischutz nötig war, und gleichzeitig einen Marsch zu erleben, der eine fröhliche politische Demonstration war, nicht in erster Linie eine Straßenparty.

Sowohl die Polizei wie die Bevölkerung haben mich enorm beeindruckt. Als Polizistin oder Polizist stundenlang in Krawallmontur in der heißen Sonne herumrennen und dann noch einen Dank mit „gern geschehen“ zu quittieren, ist alles andere als selbstverständlich. Und wenn ich in der Schweiz ein solches Polizeiaufgebot sähe, würde ich einen großen Bogen machen. Viele Gdanskerinnen und Gdansker lächelten und winkten. Ich habe beobachtet, wie ein Kind im Kindergartenalter von Vater und Mutter wegrannte, durch den Polizeikordon hindurch, sich eine kleine Regenbogenflagge schnappte und strahlend zurück zu den Eltern ging. Die Eltern lächelten und zogen samt Kind und Regenbogenflagge ihres Weges, an den Gegendemonstranten vorbei.

Dass Menschen sich ändern können, bewies der der Bürgermeister von Gdansk: Paweł Adamowicz hatte vor rund einem Jahrzehnt die Durchführung einer Pride-Parade noch abgelehnt. Dieses Jahr eröffnete er den Marsch für Gleichstellung höchstpersönlich.

Kerstin Söderblom: Was sind nach deiner Erfahrung besondere Herausforderungen für LSBT in Osteuropa?

Irène Schwyn: Zunächst: Es ist wichtig, nicht ganz Zentral- und Osteuropa ein einen Topf zu werfen. Die Rechtslage für LSBT in Estland oder Montenegro ist z.B. besser als diejenige in der Schweiz, und generell ist die Rechtslage innerhalb der EU deutlich besser als außerhalb. Vergleichbar sind hingegen die weit verbreitete gesellschaftliche und, für christliche LSBT besonders belastend, religiöse Ablehnung. Das Erstarken der politischen und religiösen Rechten wirkt sich im Moment in Osteuropa gravierender aus als im Westen.

Generell ist die Zahl der Aktivistinnen und Aktivisten im Vergleich zu den Aufgaben kleiner. Damit steigt die Belastung für die Einzelnen, und wenn jemand ausfällt, kann das ein Projekt oder das Fortbestehen einer Gruppe in Frage stellen. In dünner besiedelten Gegenden ist auch die Isolation ein großes Problem.

Kerstin Söderblom: Hast du einen Wunsch für die zukünftige Arbeit des EF?

Irène Schwyn: Dass das EF weiterhin und in noch stärkerem Maß eine wichtige Stimme im Chor von LSBT einnimmt, die ihren Glauben praktizieren, und dass die Arbeit des EF noch besser wahrgenommen und gehört wird, in den Kirchen, in der Politik und in der Gesellschaft allgemein.
 

Zum Weiterlesen:

For I am Wonderfully Made: Texts on Eastern European Orthodoxy and LGBT Inclusion, Hg. Michael Brinkschröder, Misha Cherniak, Olga Gerassimenko, Exuberanza Publisher/Niederlande.

Eine Rezension darüber:
Kerstin Söderblom, Orthodox und inklusiv.

 

 

 

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