Gottesteilchenwahn und Menschenbild: Ausblick auf 2012

Gottesteilchenwahn und Menschenbild: Ausblick auf 2012

Noch schnell bevor es anfängt, ein Blick voraus ins neue Jahr: Welche Themen aus dem Bereich Glaube und Wissenschaft stehen auf der Agenda? Und welche Veranstaltungen sind geplant?

Spannende Dinge tun sich momentan im Blick auf unser grundlegendes physikalisches Verständnis der Welt. Zuletzt haben ja angeblich überlichtschnelle Neutrinos und dann die vermutliche, nur statistisch noch nicht ganz gesicherte Entdeckung des Higgs-Teilchens von sich reden gemacht. Beides rührt an den Grundfesten der Physik und wird 2012 in den (Wissenschafts-)Schlagzeilen wohl noch eine Rolle spielen, ist aber für die Diskussion zwischen Glaube und Wissenschaft erst mal kein großes Thema: Überlichtschnelle Teilchen sind so jenseits der Vorstellungskraft der Physiker, dass man erst mal anfangen müsste, sich darüber klar zu werden, was ihr Nachweis für die Naturwissenschaft, Wissenschaftsphilosophie und dann vielleicht auch Theologie bedeuten würde. Bislang scheint vielen aber ein Messfehler die wahrscheinlichere – und völlig unspektakuläre - Erklärung.

Beim Higgs-Teilchen ist es umgekehrt: Mit dessen Existenz wird seit langem gerechnet, es ist Teil des physikalischen Standardmodells von der mikroskopischen Welt. Und die mitunter gebrauchte Bezeichnung "Gottesteilchen" für das Higgs ist durch nichts gerechtfertigt.: Das Higgs-Teilchen hat nicht mehr und nicht weniger mit Gott zu tun als das Photon oder das Elektron. (Alles was unerklärlich wirkt, kann man historisch erklären, und so ist es auch hier: In einem Buchtitel sollte das Higgs ursprünglich "goddamn particle", also verdammtes Teilchen, genannt werden, eben weil es so lange nicht gefunden wurde – der Verleger machte kurzerhand "God particle", Gottesteilchen, daraus. Mustergültig zerlegt hat den Hype übrigens Kathrin Zinkant im "Freitag".)

Weit ergiebiger im Hinblick auf schwierige interdisziplinäre Fragen erscheint mir da nach wie vor die Hirnforschung - freilich kein akut, sondern seit Jahren ein latent aktuelles Thema. Immer deutlicher wird, wie sehr Aufbau und Gegebenheiten des Gehirns unser Verhalten, unsere Fähigkeiten, unsere Entscheidungen bestimmen, kurz: Wie sehr unsere menschliche Individualität und Freiheit von Vorgängen im Kopf abhängt, die quantitativ erfassbar und im Grundsatz wohl berechenbar sind. (Wer hier als Nicht-Fachmann gern mehr wissen will, dem sei das neue Portal www.dasgehirn.info empfohlen. DISCLAIMER: Ich schreibe selbst auch für dieses Portal.). Daraus ergeben sich ungelöste Fragen etwa zu Willensfreiheit, Schuld, Verantwortung oder auch zur Bedeutung religiöser Erfahrungen. Thema ist dies alles gleich zu Jahresbeginn (6.-8. Januar) bei einer hochkarätigen, leider nicht öffentlichen Tagung der Evangelischen Forschungsakademie: "Hirnforschung und Menschenbild" (hier der Tagungsflyer).

Damit wären wir auch schon beim Ausblick auf diverse bevorstehende Veranstaltungen aus dem Bereich Glaube und Wissenschaft. Neuro-Forschung ist auch noch einmal Thema bei einer öffentlichen Akademietagung: dem Forum Neuroethik der Evangelischen Akademie im Rheinland am 27./28. Januar. Am selben Ort geht es an späteren Wochenenden um die Theodizee (Ist das Leiden der Welt von Gott gewollt?, 22./23. März) und um eine Positionsbestimmung der Evolutionsforschung (Evolutionsbiologie am Anfang des 21. Jahrhunderts, 29. Juni – 1. Juli). Und noch eine weitere Akademietagung im Juli, diesmal in Bad Boll, befasst sich mit einer speziellen Fragestellung aus der Schnittmenge von Wissenschaft und Theologie/Ethik: "Was ist Empathie? Ein Schlüssel zum Verständnis des Menschen"

Breiter thematisiert die Thomas-Morus-Akademie Bensberg das Konfliktfeld Glaube/Wissenschaft unter dem Titel: "Die großen Irrtümer? Galilei, Darwin, die Wissenschaft und die Kirche" (14./15. Januar). Ebenfalls grundlegend, aber ein wenig geisteswissenschaftlicher klingt die Tagung "Vom Verstehen des Neuen – Über Kreativität und wissenschaftlichen Fortschritt" der Evangelischen Akademie Meissen Anfang Februar. Eher Fragen der Berufsethik als der inhaltlichen Vereinbarkeit von Glaube und Wissenschaft hat die Akademiker-SMD bei ihrer diesjährigen Fachtagung Naturwissenschaftler im Visier: "Publish or perish- Forschung zwischen gemessenen und ethischen Werten" heißt das Thema vom 30. März bis 1. April in Kassel.

Noch keine näheren Infos zum Programm bietet derzeit der Katholikentag vom 16. bis 20. Mai in Mannheim – fest steht allerdings, dass es ein "Zentrum Dialog mit den Wissenschaften" geben wird. Eher an ein Fachpublikum richtet sich einige Wochen vorher die diesjährige internationale Konferenz der European Society for the Study of Science And Theology (ESSSAT) in Tartu, Estland, mit der spannenden – von den Naturwissenschaften allein kaum zu beantwortenden – Frage: What is Life? Weniger weit weg und deutschsprachig ist da die Tagung "Gottes Konkurrenz" der Katholische Akademie in Freiburg am 27. April. Auch sie verspricht spannend zu werden – die Veranstalter wollen nicht nur Glaube und Naturwissenschaften in Dialog bringen, sondern dazu bewusst eine Begegnung zwischen Wissenschaftlern und Schülern ermöglichen.

Regelmäßig gepflegte Veranstaltungshinweise gibt’s übrigens auf den Seiten theologie-naturwissenschaften.de sowie forum-grenzfragen.de. Und wer sich oder seine Lieblingsveranstaltung übergangen fühlt: bitte fleißig Ergänzungen in die Kommentare posten. Ich wünsche allen einen guten, gesegneten Start ins neue Jahr!

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