Die Frage der Woche, Folge 79: Kein erhobener Zeigefinger?

Die Frage der Woche, Folge 79: Kein erhobener Zeigefinger?
Ist die Kirche eine "Moralagentur"? Gedanken zu Hans Joas' Warnung vor einer moralischen Religion.

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und Nutzer,

in der vergangenen Woche hat der Nutzer Martell (es war eigentlich "Martelle", aber ich vermute einen Schreibfehler) gebeten, die Kritik von Hans Joas am "erhobenen Zeigefinger" der Kirche aufzugreifen. Joas hatte sich in Christ & Welt über Kirche als moralische Institution geäußert und unter anderem gesagt: "Religion ist nicht Moral." Aus dem Ethos des Christentums ergebe sich beispielsweise nicht automatisch eine liberale Migrationspolitik, und Gegner einer solchen Politik dürften daher nicht aus moralischen Sicht in eine unchristliche Ecke gestellt werden.

Joas vermischt dabei aus meiner Sicht zwei Sichtweisen. Die eine ist, dass er Kirchenleitungen abspricht, eine Deutungshoheit darüber zu haben, was christlich sei. Da hat er Recht, denn die Deutungshoheit dafür liegt letztlich bei jedem Christen selbst - in eigener Freiheit und Verantwortung (Lutherjahr!). Es gibt in der evangelischen Kirche keine dogmatische Definition, was jemand tun oder wie er glauben muss, um Christ zu sein. Im Gegenzug gibt es deswegen eine öffentliche Diskussion darüber, was einen Christen ausmacht. Diese Diskussion abzuwürgen mit dem Hinweis, man könne ohnehin keine Vorgaben machen, wäre falsch. Denn Christsein bedeutet auch, eine Haltung zu haben und sie auch zu vertreten. Die Verhandlung, was in der evangelischen Kirche eine Mehrheitshaltung ist, wird auch durch die Kirchenleitungen angestoßen und geführt. Aus der christlichen Haltung ergibt sich dann wiederum eine politische.

Und unpolitisch sollte Kirche nicht sein. Denn Kirche ist eine der letzten Institutionen, die überhaupt noch als moralische Instanz wirken kann, weil sie eine Basis dafür hat, die sich nicht aus tagespolitischen Überlegungen ableitet. Wir streiten ja über die Auslegung des Evangeliums, nicht darüber, mit welchen Aussagen man wie viele Wähler begeistert. Joas sagt, dass "gesellschaftlicher Zusammenhalt" als nützliche Funktion der Kirche keine ausreichende Existenzbegründung sei: "Bekanntlich wird niemand gläubig, weil man ihm sagt, es sei gut, zu irgendeinem Zweck gläubig zu sein", zitiert ihn Christ & Welt. Er setzt dabei aber Kirchenmitgliedschaft und Glaube gleich. Kirchenmitgliedschaft hat auch immer ganz viel zu tun mit diakonischem Handeln und dem Erleben der Kirche vor Ort, wie uns auch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gezeigt hat. Die evangelische Kirche wird "von etwa einem Viertel der Befragten mit religiöser Überzeugung bzw. der entsprechenden Praxis verbunden" (KMU V). Die spirituelle Funktion von Kirche ist auch für ihre eigenen Mitglieder nur ein Teil des Ganzen. Religion und Kirche sind nicht immer deckungsgleich.

Joas, wie ich ihn verstanden habe, spricht der Kirche als Institution ab, gesinnungsethisch argumentieren zu dürfen. Die Funktion von Kirche als Moralinstanz ist aber für ihre Mitglieder immer noch sehr wichtig - mindestens genauso wichtig wie die spirituelle Dimension. Joas hat Recht, wenn er sagt, dass Einwände gegen eine moralische Aussage möglich sein müssen, damit eine politische Diskussion nicht mit absoluten Aussagen geführt wird, die nicht zu einem gemeinsamen Verständnis von Situation und Lösung führen. Und wenn sich jemand "für nachweisbare Folgen seines gut gemeinten Handelns nicht interessiert", kritisiert Joas das zu Recht.

Was man aber nicht übersehen darf, ist, dass sich aus dem Evangelium Jesu Christi unverrückbare Grundlinien der Menschlichkeit ableiten, die eben doch unverhandelbar sind. Wenn man das konkret an der politischen Diskussion über Flüchtlinge festmacht, dann kann man gerne und sinnvoll darüber reden, wie wir kollektiv und einzeln damit umgehen, dass viele fremde Menschen hierher kommen. Dass Barmherzigkeit ein ganz wesentliches Leitprinzip dafür ist und jeder Ankömmling das Recht hat, wie ein freier Mensch behandelt zu werden, ist für mich jedoch nicht die Aussage einer "Moralagentur Kirche", gegen die sich Joas wendet, sondern eine Grundlage unseres Zusammenlebens. Das ist nicht automatisch das gleiche wie eine "liberale Migrationspolitik".

Und wer soll auf diesen Unterschied zwischen einer Grundhaltung und einer konkreten politischen Umsetzung hinweisen, wenn nicht eine Institution wie die Kirche(n), die an der politischen Umsetzung nichts zu gewinnen hat? Es gibt Kirchen im Land, die voller wären, wenn der Pastor von der Kanzel die Bestärkung des Protestantismus gegen den "einwandernden Gegner" predigte. Kirchenleitende hätten mit weniger Anfeindungen zu kämpfen, wenn sie sich schwammiger oder gar islamfeindlicher positionieren würden. Die eigene Position zu vertreten, soll nicht mit Arroganz geschehen, auch da hat Joas Recht - aber mit Haltung und Menschlichkeit. Wenn das die Definition einer "Moralagentur" ist, dann ist die Kirche eine solche und sollte das nicht aufgeben, sondern immer wieder ins öffentliche Gespräch bringen. Denn das ist ein Auftrag, der sich aus dem Evangelium ableitet und den Kirche als Instution erfüllen soll.

Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!


Wenn Sie weitere, andere oder neue Fragen zu evangelisch.de oder unseren Themen haben, sind die Redaktion und ich auf vielen verschiedenen Kanälen erreichbar:

- unter diesem Blogeintrag in der Kommentarfunktion

- evangelisch.de auf Twitter als @evangelisch_de und auf Instagram als evangelisch.de

- ich selbst auf Twitter unter @dailybug

evangelisch.de auf Facebook

E-Mail für inhaltliche Fragen und Anregungen

Alle Fragen zu Kirche und Glauben beantwortet Ihnen unser Pastor Frank Muchlinsky auf fragen.evangelisch.de.

Ich werfe immer am Samstag an dieser Stelle einen Blick auf die vergangene Woche und beantworte außerdem Ihre Fragen zu evangelisch.de, so gut ich kann. Ich wünsche euch und Ihnen einen gesegneten Start ins Wochenende!

weitere Blogs

Symbol Frau und Sternchen
Geschlechtsneutrale oder geschlechtssensible Sprache erhitzt seit Jahren die Gemüter. Nun hat die Bayrische Landesregierung das Gendern verboten. Die Hessische Landesregierung will das Verbot ebenfalls einführen.
Eine Ordensschwester im Kongo wurde wieder freigelassen – weil der Bandenchef keinen Ärger wollte.
Ein spätes, unerwartetes Ostererlebnis der besonderen Art