TV-Tipp des Tages: "Ein Jahr nach morgen" (Arte)

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TV-Tipp des Tages: "Ein Jahr nach morgen" (Arte)
TV-Tipp des Tages: "Ein Jahr nach morgen", 21. September, 20.15 Uhr auf Arte
Eine 16-Jährige hat zwei Menschen getötet. Das Mädchen schweigt – und erhöht damit den Druck auf alle Beteiligten. „Ein Jahr nach morgen“ zeigt die Opfer- und Täterseite bei ihrer Trauerarbeit, die keine "Erlösung" bringt.

Zum Vorspann singt Tori Amos den berühmten Song der Boomtown Rats, "I Don’t Like Mondays". Der Ausspruch stammt von einer damals 16 Jahren Amerikanerin, die 1979 zwei Männer erschossen und neun weitere Personen verletzt hatte; ein Journalist hatte wissen wollen, warum sie das getan habe. Bob Geldof ließ sich durch die Tat zu seinem Welthit inspirieren, Aelrun Goette zu dem Film "Ein Jahr nach morgen". Hauptfigur ist allerdings nicht die jugendliche Mörderin Luca, sondern ihre Mutter. Anders als in Thomas Stillers atmosphärisch ganz ähnlich angelegtem Jugenddrama "Sie hat es verdient" sucht Goette nicht nach einem Motiv, sondern nach der Antwort auf eine Frage, die für die Angehörigen von Täterin und Opfer ähnlich existenziell ist: Gibt es ein Leben nach der Tat? Die Morde stehen daher ganz bewusst nicht im Zentrum der Handlung. Sie werden ohnehin erst im Verlauf der Handlung nachgereicht, und selbst dann nur im Rahmen eines Gerichtsgutachtens. Goette (Buch und Regie) interessiert sich vielmehr für die Stille nach dem Schuss und die Menschen, die mit den Konsequenzen leben müssen.

Charakterstudie von verstörender Intensität

Der Themenkomplex Kinder und Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Filmografie der Regisseurin. Schon ihre erste Dokumentation ("Ohne Bewährung", 1998) war das Psychogramm einer jugendlichen Mörderin. "Die Kinder sind tot" (2003) dokumentiert den Fall einer Mutter, die ihre Kinder verdursten ließ. Auch in ihren Spielfilmen ("Unter dem Eis", 2003; "Tatort: Der glückliche Tod", 2008, "Keine Angst", 2009) werden Kinder mit dem Sterben konfrontiert. Herausragend sind dabei immer wieder die Leistungen der Darsteller, deren Spiel von Goette so lange reduziert wird, bis kaum merkliche Nuancen enorme Wirkung entfalten. Margarita Broich, die in ihrer Laufbahn schon viele schwierige Figuren verkörpert hat, verschwindet als Mutter zuweilen fast in den Bildern; und ist gerade deshalb in den richtigen Momenten von einer ungeheuren Präsenz. Bestes Beispiel ist der Fund des Tagebuchs, in dem sich Luca über die Erbärmlichkeit ihrer Mutter auslässt; eine ausgesprochen heikle Szene, die Broich mit Bravour meistert. Ähnlich gut spielt Rainer Bock. Vordergründig wird die Figur des Vaters auf die Frage reduziert, wie er ungeschoren aus der Sache rauskommt, denn die Tatwaffe war sein Jagdgewehr; er muss mit einem Verfahren wegen fahrlässiger Tötung rechnen. Mit seinem reduzierten und dennoch andeutungsreichen Spiel vermittelt Bock, dass die äußere Gefasstheit bloß Fassade ist.

Ähnlich exponiert wie die Mutter ist Julius (Jannis Niewöhner), Lucas engster Freund. Er leidet am stärksten unter der Schuldfrage, denn er allein wusste von dem ziellosen Hass, der in Luca tobte. Sie selbst ist bloß in Form eines Handyfilms präsent, den Julius vor der Tat aufgenommen hat. Diese wenigen Aufnahmen genügen der jungen Gloria Endres de Oliveira für eine Charakterstudie von verstörender Intensität. Wie schon Michelle Barthel und Carolyn Genzkow in "Keine Angst" führt Goette auch hier eine zuvor praktisch unbekannte junge Schauspielerin zu einer außergewöhnlichen Leistung. Beinahe beängstigend, wie die junge Frau in einer Einstellung mit minimaler Mimik von einem Moment auf den anderen auf eisige Kälte umschaltet.

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Neben weiteren bemerkenswerten darstellerischen Leistungen (unter anderem Isolda Dychauk als Tochter eines der beiden Opfer) zeichnet sich "Ein Jahr nach morgen" durch eine ungemein stimmige, sehr akzentuiert eingesetzte Musik (Annette Focks) und eine herausragende Bildgestaltung aus; Kamerafrau Sonja Rom findet berührende Bilder für die Einsamkeit aller Figuren. Ein bedrückender, alles andere als leicht zu konsumierender Film über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Um so mehr Respekt gebührt dem WDR, der immer wieder solche sperrigen Stoffe verfilmen lässt.