Pilgern in Neukölln

Treiben lassen durch ein Straßen, Neues entdecken und sich an fast Vergessenes wieder erinnern - wann macht man das schon?
Foto: Ostkreuz/Jörg Brüggemann
Treiben lassen durch ein Straßen, Neues entdecken und sich an fast Vergessenes wieder erinnern - wann macht man das schon?
Pilgern in Neukölln
"Neues riskieren, ohne Blick zurück" - so lautet das Motto der dritten Fasten-Woche von "7 Wochen ohne". Manchmal liegt das Neue sehr nah - einfach ein paar Stadtviertel weiter. Und manchmal erscheint Altbekanntes in neuem Licht. Man muss nur mal eben die Richtung ändern. Eine Kurzgeschichte aus Berlin.

Die Handtasche wird mir schon auf dem Weg zur S-Bahn entwendet. Eine Nachbarin zupft sie mir von der Schulter. "So dürfen Sie Ihre Tasche nicht tragen!" Sie zeigt mir, wie ich sie sichern muss: "Man weiß ja nie, wo se loofen!" Und ich hatte noch überlegt, ob ich die Tasche überhaupt mitnehmen soll. Denn ich will dahin, wo "se  loofen", die Handy-Abzocker, Handtaschenklauer, Messerstecher. Ich will auf den Spuren von Heinz Buschkowsky wandeln und in Neukölln spazieren gehen. Im Ohr habe ich das Gespräch mit meiner Freundin in Basel, wie sie sich gruselte vor den "No-go-areas" in Berlin. Tatsächlich ist es schon ein paar Jahrzehnte her, dass ich mich in Neukölln getummelt habe. Normalerweise gehe ich am Lietzensee spazieren. Ich musste mich aufraffen, die Richtung zu ändern.

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Nass zu werden, will ich nicht riskieren. Darum kaufe ich mir in der Hermannstraße erst mal einen Regenschirm. An der Kasse werde ich Zeugin eines familiären Tumults. Ein zweijähriger Mehmet kräht, weil die Oma ihm den falschen Saft gekauft hat. Sie versucht, ihn zu tauschen. In einer Drogeriekette geht das nicht ohne Bon. Ratlos gibt sie auf, was die Verkäuferin mit leichtem Spott quittiert. Wie viele solcher kleinen Niederlagen hat der Alltag in der Fremde für die alte Frau parat? Einkaufen in Neukölln ist ihr Problem. Nicht meins.

Der Himmel reißt auf, als ich mit meinem Schirm ins Freie trete. Licht liegt über dem Menschengewimmel in der armen Hermannstraße. Im Bushäuschen drängen sich sechs gut gelaunte Arbeiter mit ihrer Molle. Mir wird heimatlich ums Herz. Aber warum? Die Männer in meiner Familie haben nie mit Molle im Bushäuschen gestanden. Sie trugen Schlips und Doktortitel.

"Keine Macht für niemand!",  "Trödel-Dödel" und  "Zauberkönig"

Heimat ist da, wo wir nie waren. "Was allen in die Kindheit scheint", wie es bei Ernst Bloch heißt, nicht wahr? Heimat sind für mich Männer mit Molle, dicke Frauen in Kittelschürze, schmuddlige Wohnküchen. Wo ich nie war, was mir aber in die Kindheit mal geschienen haben muss. So treibe ich gern zwischen diesen Vielen, die sichtlich nicht auf sich halten. Den unrasierten Männern in ausgebeulten Kordhosen, den Frauen in unsäglichen Nylonpullovern. Gibt es etwas Friedlicheres als eine Straße voller Leute, die keinen Ehrgeiz haben? Einer bittet mich um 20 Cent. Und bedankt sich herzlich, weil ich sie ihm gebe.

Die Friedhofsmauern sind besprüht mit kunstvollen Antifa-Graffiti in schwarz-gelb-rosa. "Keine Macht für niemand!", steht da. Die Läden heißen "Trödel-Dödel", "Mamas Backstube", "Fleischerei Mustafa", "Sexothek" und  "Zauberkönig". Beim "Zauberkönig" gibt es: Wurli-Würmer ab 3,-, Perücken ab 12,- und "diverse Scheiße" ab 1,50 Euro. Ich entscheide mich für Letzteres, ein aufziehbares Plastikgebiss.

Und nun will ich vorbei an den Spielhöllen, die sich Kasino nennen, in die Hasenheide, wo, wie ich hörte, die schwarzen Dealer sind. Ein ebenholzhäutiger Prinz mit Turban sitzt auch gleich am Eingang. Auf seinem Schoß krabbelt ein  hellhäutiges Kind. Trotzdem, bestimmt  hat er was in der Tasche. Eine Bank weiter sind sie gerade im Geschäft. Und an der nächsten Ecke kriecht ein ganzer Trupp Afrikaner im Unterholz herum.

Und dann auf der Wiese: afrikanischer Familiennachmittag. Alte Männer, Frauen, Kinder. Dazwischen auch die wachsam blickenden Jungen, die für den Unterhalt sorgen. Friedlich musizierend mittendrin: eine große Schar deutschstämmiger Integrationsverweigerer. Irgendwie gemütlich hier. Abgefahren.

Bin ich alt, ängstlich, gar spießig?

Fröhlich grüßt mich ein muskelgestählter Orientale. "Was zu rauchen? Brauchst du?", murmelt er im Vorübergehen. Das brauche ich nun nicht, fühle mich aber gleich um Jahrzehnte verjüngt. Es rumort in meiner alten Seele. Sie traut sich ans Verdrängte.  

Es gab doch Jahre, in denen der Gang in die Hasenheide, um "was zu rauchen" zu holen, zu meinen ganz normalen Lebensrisiken gehört hat? Und nicht mal zu den größten. Damals bin ich mit der Freundin, die jetzt in Basel wohnt, nachts nach Paris getrampt und mehrfach über Stock und Stein vor zudringlichen Kerlen geflohen. Und dann wollten wir es doch wissen und haben versucht, uns als Animierdamen zu verdingen, wobei wir kläglich gescheitert sind. Was haben wir gelacht!

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Ich sollte mich jetzt aber doch alt finden. Ängstlich und spießig geworden. So wie es mir die Hobbyastrologin damals prophezeit hat: Stinkbürgerlich würde ich enden. Das lässt sich nicht bestreiten. Aber ich fühle es nicht. Damals war das Leben draußen, denke ich. Ich kannte mich nicht. Darum konnte ich alles machen. Jetzt ist es drinnen und ich will einfach nicht mehr alles machen. Oder bin ich nicht doch feige geworden? Na aber. Riskiere ich nicht was mit jedem Text? Ja aber, fürchtest du dich nicht vor ...? Ein kleines Mädchen sitzt in mir, das fürchtet sich sehr. Vor dem blauen Brief, vor der Fünf. Vor dem Scheitern, was nicht sein darf.

Wie sich das kleine Mädchen fühlt, weiß ich. Aber wie hat sich die junge Frau gefühlt, die hier in langen Trägerröcken und mit Hanna-Schygulla-Locken durch die Gegend gestrichen ist? Unklar jedenfalls. Darum ist mir die Karl-Marx-Straße auch nur ungenau vertraut. Habe ich den Laden mit den Wasserpfeifen und dem ausgestopften Hahn im Schaufenster damals bemerkt? So verstaubt, wie die Auslage ist, müsste er schon da gewesen sein. Aber die Botschaft auf dem Zettel am Glas ist gut lesbar: "Ich fahre nich mer in Urlaub. Ich habt Neukölln." So was Schönes  findest du aber nicht überall, Herr Buschkowsky!

Wo man nichts sein muss, da ist Heimat

Im berüchtigten Rollbergviertel war ich noch nie. Es tut sich auf nach verlassenen Industriepfaden, die wie geschaffen sind für nächtliche Überfälle. Unheimlich auf den ersten Blick: die leicht verlotterten Betonburgen, die wie Vororthäuser auf Abstand zueinander stehen. Dazwischen  karge Grünflächen, auf denen schon das Lachen der Halbwüchsigen zu laut wirkt. Hier haben es asoziale Architekten in den 1970er Jahren auf fatale Weise zu "sozial" gemeint. Jetzt wird die Wohnwüste zusammengehalten von Quartiersmanagement, Beratungsstellen und Videoüberwachung. "Rassismus ist, wenn man meinen Namen immer falsch schreibt", lese ich am Mädchentreff Madonna. Merke ich mir eigentlich, wie man türkische Namen schreibt?

###autor###

Zurück in die Richardstraße, dahin, wo es noch Hinterhöfe gibt. In einem habe ich ja mal gewohnt und vor dem Spiegel Maria Stuart geübt: "Ich habe menschlich, jugendlich gefehlt..." Geputzt habe ich, glaube ich, nie. Und immer bin ich morgens zu spät gekommen zum Job, zum Unterricht. Und...und...und... "Ob sie mir helfen könne?", fragt mich eine alte Türkin. Denn ich sehe so suchend aus.

Lasse mich nun treiben durch die Dämmerung bis an die Sonnenallee und zurück. "Das Geheimnis dieser Häuser", hieß das letzte Kapitel in der "Roten" von Alfred Andersch. Die Heldin verschwand darin, in einem Armenviertel in Norditalien. Rätselhaft. Einleuchtend. Heimat ist, wo man nichts sein muss. "Der Kiez bleibt dreckig", lese ich an einer frisch gestrichenen Wand. Eben. Heimat ist nicht frisch gestrichen.