St. Pauli-Pastor: "Der Kiez ist wie ein Korallenriff"

Pastor Wilm vor dem Silbersack im Rotlichtviertel
© Matthias Pabst
"Der Kiez braucht die Kirche, aber auch die Kneipe", sagt der Hamburger Kiez-Pastor Sieghard Wilm. Die Stimmung ist nach einem Jahr Corona niedergedrückt und doch beobachtet der Seelsorger unter den St. Paulianern auch gegenseitige Unterstützung und Aufmunterung.
St. Pauli-Pastor: "Der Kiez ist wie ein Korallenriff"
Im Hamburger Vergnügungsviertel St. Pauli schwankt die Stimmung zwischen Niedergeschlagenheit und Trotz. Ob Clownin, Prosituierte oder Hipster - vielen Menschen auf dem Kiez fehlt in der Corona-Zeit die Perspektive, wie Pastor Wilm berichtet.

Auf der Hamburger Reeperbahn herrscht seit mehr als einem Jahr fast unheimliche Stille. Vereinzelt sind Lebensmittelgeschäfte oder Pommes-Buden geöffnet, aber Clubs, Bars und Rotlicht-Läden haben geschlossen. Wann sie wieder öffnen können, weiß niemand - geschweige denn, wann sie zu normalem Betrieb zurückkehren können. "St Pauli ist wie ein Korallenriff: über lange Zeit gewachsen", sagt der Hamburger Kiez-Pastor Sieghard Wilm. "Wenn es einmal einen tiefen Schnitt gab, weiß man nicht, was danach genau bleibt." Die Stimmung unter den St. Paulianern schwanke zwischen Niedergeschlagenheit und Trotz.

Seelsorge sei momentan sehr gefragt, so Wilm. "Es kommen Menschen aus allen Berufen zu mir: von der Clownin über die Prostituierte bis zum Hipster." Was vielen fehlt, sei die Perspektive: "Wo ist Land in Sicht?" Selbstständige lebten längst von der Hand in den Mund. Doch beobachtet der Pastor der evangelischen Gemeinde am Hafenrand auch gegenseitige Unterstützung und Aufmunterung: "Der Graffiti-Künstler Ray de la Cruz hat das Logo 'We miss you' entworfen und an eine Hauswand am Hans-Albers-Platz gesprüht. Als Aufkleber gedruckt sollen es die Menschen offen auf Taschen, Autos und Kleidung tragen und so den St. Paulianern signalisieren: 'Wir denken an Euch.'"

"Nicht alles schillernd und liebenswürdig"

Es gehe nicht nur ums Geld verdienen, sagte Wilm dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Viele Menschen haben hier Herzblut investiert, sie identifizieren sich mit ihrem Stadtteil." Daher sei aber auch das "Wir-Gefühl" besonders groß. Die Menschen sprechen sich untereinander Mut zu. Allerdings wolle er St. Pauli auf keinen Fall romantisieren. "Nicht alles hier war schillernd und liebenswürdig, das ist klar", sagt der 55-Jährige, der seit 2002 Pastor auf St. Pauli ist. 

Bars, Theater, Bordelle: Der Kiez von St. Pauli ist für sein Nachtleben weltberühmt. Durch die Corona-Krise herrscht dort aber seit Monaten Geisterstimmung. Übersteht der Kiez die Krise?

Beim Spaziergang über den Kiez unterhält er sich viel mit den Leuten. Etwa mit dem Unternehmer Axel Strehlitz, dem mehrere Clubs und eine Filmproduktion gehören. Strehlitz betreibt seit Dezember eines der ersten PCR-Testzentren, mitten auf der Reeperbahn, und hat dort seine Mitarbeiter aus den Läden angestellt. Eigentlich DJs, Tänzer, Travestiekünstler und Barpersonal - jetzt geben sie kleine Becher mit einem Schluck Kochsalzlösung aus und erklären, wie man damit richtig gurgelt, damit er im Labor auf Covid-19 untersucht werden kann. "Ich bin froh, meinen Leuten so weiterhin Jobs anbieten zu können - auch wenn sie jetzt ganz andere Sachen machen", sagt Strehlitz. 

Sieghard Wilm ist seit 2002 Pastor auf St. Pauli in der evangelischen Gemeinde am Hafenrand.

Präsenz-Gottesdienste feierten Wilm und seine Kollegin Sandra Starfinger in den vergangenen Wochen nicht, Andachten gab es nur online. "Die Kirche war zu den Gottesdienst-Zeiten offen, und die Menschen konnten zum stillen Gebet kommen." Am 15. April beschloss der Kirchengemeinderat, 30-minütige Gottesdienste in Präsenz zuzulassen. "In Hunderten von Kirchen haben in den vergangenen Monaten Gottesdienste stattgefunden, es gibt gute Erfahrungen mit Hygiene-Konzepten." Auch das Argument, dass unter den Gottesdienst-Besuchern immer mehr Geimpfte sind, habe bei der Entscheidung eine Rolle gespielt.