"Ein Glaube ohne Zweifel wäre ein Computerprogramm"

Weg zu Gott
©shutterstock/Falcona
Einen Weg zu Gott wählen, trotz Zweifeln, und zum Glauben zurückfinden, ist ein steiniger Weg.
"Ein Glaube ohne Zweifel wäre ein Computerprogramm"
Wie ein Pfarrer mit Zwangsstörungen und Alkoholabhängigkeit lebt
Alkohol, Tabletten und Selbstmordgedanken: All das hat Pfarrer Volker Halfmann hinter sich. Sein von Angst erfülltes Gottesbild trieb ihn schließlich in eine Lebenskrise: Er schrieb Gott einen Hassbrief, kündigte seinen Job – und fand schließlich zum Glauben zurück.

Herr Halfmann, zu was für einem Gott beten Sie heute?

Volker Halfmann: Ich habe einen Gott vor Augen, der mir in Jesus begegnet. Wenn ich Gottes Sohn anschaue, erkenne ich Liebe und Barmherzigkeit. Jesus weint mit den Weinenden und leidet mit den Leidenden. Er ist gerade denen nahe, die am Ende ihrer Kräfte sind und nicht weiter wissen.

Mein Bild von Gott hat sich stark gewandelt: Es ist heute das Gegenteil von dem Bild, das ich seit meiner Kindheit hatte. Dieser Gott war für mich ein unberechenbarer Himmelsdespot, der nur darauf gewartet hat, mich zu bestrafen. Er war für mich niemand, der mich mit Barmherzigkeit angesehen hat. Vor genau diesem Gott habe ich versucht wegzurennen. Dabei war das Schlimme für mich, dass man vor Gott überhaupt nicht weglaufen kann! Denn in Psalm 139 steht: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Diese Vorstellung war für mich der absolute Horror. Ich hatte das Gefühl, diesem "Big Brother"-Gott nie zu genügen. Ich hatte furchtbare Ängste, die durch meine Zwangsstörung dann schließlich krankhaft wurden.

Trotzdem haben Sie sich als junger Mann dazu entschieden, Theologie zu studieren und als Pfarrer im Bund freier evangelischer Gemeinden zu arbeiten.

Halfmann: Das klingt auch für mich ein bisschen verrückt. Ich wollte ursprünglich Mathematik oder Informatik studieren. In mir gab es dann doch einen Impuls und ich fragte mich, warum ich nicht Theologie studieren sollte. Es kamen aber mehrere Sachen bei mir zusammen: Ich wollte mit dem Studium auch bei meinem Vater Pluspunkte sammeln. Ich war mir zu dem Zeitpunkt aber überhaupt nicht bewusst, was der Beruf eines Pfarrers bedeutet: nämlich, dass man auf Menschen zugehen muss. Das hatte ich erst realisiert, als ich in meinem ersten Gemeindepraktikum war und mich auf der Toilette eingeschlossen hatte. Da dachte ich nur: Hilfe, alle Menschen wollen mit mir reden! Als ich mich für das Studium entschieden hatte, habe ich mich viel mehr darauf gefreut, in der Dogmatik (Anmd. d. Redaktion: Wissenschaft über die Inhalte der christlichen Glaubenslehre) nach Antworten auf existenzielle Fragen suchen zu können.

"Wer weiß, vielleicht war es schon damals Berufung und Gott hatte seine Finger im Spiel?"

Im Frühjahr 2007 waren Sie zwei Monate lang in einer Fachklinik für Suchtkranke. Dort schrieben sie einen Hassbrief an Gott und rechneten mit ihm ab: „Du hast mich kleingemacht, mir das Leben geraubt und mir die Luft zum Atmen genommen“, steht darin. Sie kündigten daraufhin ihren Job als Pfarrer, zogen um und machten eine Umschulung zum Medienkaufmann. Waren Sie in dem knappen Jahr ohne Gott glücklich?

Halfmann: Das war sehr ambivalent. Ich habe versucht, ohne den Gott zu leben, den ich bis dahin kannte. Ich wollte endlich ein mündiges Leben führen und entscheiden können ohne in ständiger Angst vor den Strafen Gottes zu leben. Das war harte Arbeit, weil ich das Gefühl nicht automatisch abschütteln konnte. Dort, wo es mir gelungen war, fühlte es sich unglaublich gut an. Ich war befreit von dem Gott, der mich geknechtet hatte.

Gleichzeitig hatte ich aber auch das Gefühl, dass mir ohne die Existenz Gottes etwas in meinem Leben fehlte. Ich bin ein Typ Mensch, der Antworten auf Fragen braucht, zum Beispiel darauf, was nach dem Tod kommt. Aber solche Fragen blieben für mich unbeantwortet. Ich habe damals auch nicht hundertprozentig gottlos gelebt, sondern habe sonntags den Gottesdienst besucht – auf den Wunsch meiner Frau, die nicht wollte, dass unsere Kinder komplett den Kontakt zum Glauben verlieren. Als Kompromiss sind wir dann nicht in den Gottesdienst einer Freikirche gegangen, sondern in der evangelischen Kirchengemeinde Velbert-Nierenhof, in deren Nähe wir damals wohnten.

Wie haben Sie zu Gott zurückgefunden?

Halfmann: Mein neues Konzept war gescheitert: Ich war nicht der Meister meines Lebens, der ich sein wollte. Ich hatte wieder zum Alkohol gegriffen und habe mir dann in der Psychiatrie helfen lassen. Das war mein absoluter Tiefpunkt: Ich hatte mir für meine Familie gewünscht, mein Leben ohne Gott stemmen zu können. Für meinen neuen Job sind wir aus Bayern nach Nordrhein-Westfalen umgezogen. Ich wollte endlich für meine Familie da sein. Meine Seele war aber am Ertrinken und hat um Hilfe geschrieen: Gott, wenn du mich siehst, dann hol mich hier raus, ich kann nicht mehr! In diesem Moment des „Absaufens“ hat Gott mich erreicht und ich habe einen Gott kennenlernen dürfen, der völlig anders war als der, den ich bislang kannte. Gott hat mich gerettet. Natürlich falle ich auch heute immer wieder in alte Muster zurück: Bei den Anonymen Alkoholikern habe ich aber gelernt, in einem gewissem Sinne einfältig zu glauben – so wie es ein Kind tut: Ich muss auf Gott vertrauen und akzeptieren, dass es Dinge gibt, die ich nie begreifen werde.

Inwiefern ist es normal, dass auch ein Pfarrer an Gott zweifelt?

Halfmann: Das ist völlig normal! Ein Glaube ohne Zweifel wäre ein Computerprogramm. Vertrauen ist in jeder Beziehung wichtig – auch in der zu Gott. Natürlich hat man als Pfarrer eine Vorbildfunktion. Ich hatte damals immer eine Art Supergeistlichen vor Augen wie ihn Paulus in seinem Brief an Timotheus beschreibt: „Sei den Gläubigen ein Vorbild im Wort, im Wandel, in der Liebe, im Geist im Glauben.“ Ich glaube auch, dass manche Gemeindemitglieder dieses Bild vor Augen haben. Für mich hat sich das Vorbild-Sein aber gewandelt: Ein Pfarrer sollte den Ehrgeiz haben, sich mit heiklen Themen zu beschäftigen. Er sollte aber auch genauso zu seinen Grenzen und Niederlagen stehen. Ich verstecke meine Person heute nicht hinter meinen Predigten, sondern erzähle offen und ehrlich von meinen Ängsten und Zweifeln.

"Zuzugeben, dass man hingefallen ist, ist auch vorbildhaft."

Sie arbeiten seit Sommer 2012 wieder in Ihrer alten Kirchengemeinde, der freien evangelischen Gemeinde in Karlstadt mit knapp 40 eingetragenen Mitglieder. Wie war Ihr Gefühl, als dorthin zurückgekehrt sind?

Halfmann: Ich war froh überhaupt zurückkehren zu dürfen, weil ich das Gefühl hatte, dass mein Weggang damals zu abrupt war. An das Unvollendete anzuknüpfen fühlte sich für mich gut an. Es war auch ein großer Vorteil, dass die Gemeindemitglieder genau wussten, worauf sie sich mit mir als Pfarrer einlassen würden. Sie kannten mich und damit auch das, was ich ihnen geben kann und das, was ich ihnen nicht geben kann. Das war für mich wie ein Geschenk: Ich musste nicht bei Null anfangen. Ich war aber natürlich auch aufgeregt und unsicher, wie die Gemeindemitglieder auf mich reagieren würden. Ich habe aber viel Wärme erfahren. Viele Geschwister haben mir gesagt, dass sie sich freuen, dass ich zurück bin.

Im vergangenen Februar haben Sie ein Buch veröffentlicht. In „Mein goldener Sprung in der Schüssel“ schildern Sie schonungslos ehrlich, wie Sie zum Beispiel Ihren Selbstmord mit einem Motorrad planten. Wie erging es Ihnen während des Schreibprozesses?

Halfmann: Das war nicht leicht. Es hat eine Menge Kraft gesogen, die Gespenster der Vergangenheit so detailliert zu beschreiben. Ich habe mir die schmerzvollen Szenen meiner Vergangenheit noch einmal vergegenwärtigen müssen. Den Großteil hatte ich zwar schon in Therapien verarbeitet, aber die Reflexion ging mir doch nahe, weil ich mir auch bewusst wurde, wie schwierig die Situation auch für meine Familie gewesen sein muss. Zusätzlich traten in der Anspannungssituation, ein Buch veröffentlichen zu wollen, auch wieder meine Zwänge hervor. Ich habe mich auf dünnem Eis bewegt. Seit der Veröffentlichung erlebe ich immer wieder, dass Menschen mir sagen, dass sie meinen Mut bewundern. Ich glaube aber, dass es eher Wut war, die mich zu diesem Akt des Coming-Outs bewegt hat. Ich wollte mich nicht länger mit meinen Problemen verstecken und schämen müssen. Ich wollte dieses ätzende Gefühl abschütteln und den Menschen sagen: So bin ich und so müsst ihr mich akzeptieren.

Wie geht es Ihnen heute und was raten Sie anderen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden?

Halfmann: Ich erlebe im Moment eine Zeit, die eher belastend ist. Ich habe in den vergangenen Monaten über meine Kräfteverhältnisse gelebt. Mein Akku ist leer und da hat sich meine Krankheit zurückgemeldet. Wenn ich aber zurückschaue, hat sich eine Menge verbessert. Ich weiß, dass sich meine Zwänge zurückmelden können. Ich habe heute aber andere Ressourcen, um damit umzugehen. Ich bin in Therapie und meinen Problemen nicht hilflos ausgeliefert. Heute gibt es für mich auch den geistlichen Bereich, der mir hilft – früher hat der mein Leben eher erschwert und war eine zusätzliche Last. Jetzt lässt der spirituelle Bereich meine Seele atmen. In der Stille vor Gott kann ich Kraft und Zuversicht tanken. Was ich allen rate, ist, sich auf keinen Fall zu verschließen, sondern zu reden. Sobald man eine Sprache findet und jemand ein Ohr hat, ist der erste und entscheidende Schritt genommen.