"Ärzte ohne Grenzen": Flüchtlingspolitik moralische Bankrotterklärung

Eine Gruppe von Migranten steht an einer Mauer des völlig überfüllten Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos im Ägäischen Meer.
Foto: Petros Giannakouris/AP/dpa/Petros Giannakouris
Eine Gruppe von Migranten steht an einer Mauer des völlig überfüllten Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos im Ägäischen Meer.
"Ärzte ohne Grenzen": Flüchtlingspolitik moralische Bankrotterklärung
Situation in griechischem Lager Moria dramatisch
"Ärzte ohne Grenzen" geht mit der EU hart ins Gericht. Das Leid der Flüchtlinge vor der Haustür werde bewusst in Kauf genommen, um den Zustrom zu begrenzen. Die Not der Geretteten auf dem Schiff "Aquarius" sei nur ein Beispiel von vielen.

Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" hat die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der Europäischen Union scharf kritisiert. Um weitere Menschen von einer Flucht nach Europa abzuhalten, werde menschliches Leid vor unserer Haustür bewusst in Kauf genommen, kritisierte der Geschäftsführer der deutschen Sektion des Hilfswerks, Florian Westphal, am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung des Jahresberichtes. Das Ganze sei "eine moralische Bankrotterklärung für die EU".

Neben dem aktuellen Fall der 629 aus Seenot geretteten Flüchtlinge auf dem Rettungsschiff "Aquarius", die derzeit auf dem Mittelmeer festsitzen, weil das Schiff keine italienische Häfen anlaufen darf, verwies Westphal auf die dramatische Situation im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Das für 3.000 Menschen ausgelegte Lager sei mit derzeit mehr als 7.400 Insassen "heillos überbelegt", die Lebensumstände seien katastrophal. Rund ein Drittel der Insassen seien Kinder, von denen viele Trauma- und Stresssymptome zeigten, etwa als Bettnässer oder durch Selbstverletzungen.

So viel Platz wie in einem Zugabteil

Viele der Flüchtlinge steckten seit Monaten oder sogar Jahren in Moria fest, die Asylprozesse dauerten viel zu lange und seien vollkommen intransparent. Die Zahl der Neuankömmlinge habe sich in den ersten fünf Monaten dieses Jahres gegenüber 2017 um 50 Prozent gesteigert. So seien im Mai phasenweise rund 100 Menschen täglich auf Lesbos angekommen, darunter viele Frauen und Kinder aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Sechs- bis achtköpfige Familien hätten in dem Lager in der Regel nur so viel Platz wie in einem Zugabteil. "Ärzte ohne Grenzen" betreibt derzeit gegenüber dem Lagereingang eine Kinderklinik und in der Insel-Hauptstadt Mytilini eine Klinik für Folteropfer.

Einen der größten Einsätze hatte die Hilfsorganisation vergangenes Jahr jedoch im Jemen. Das Gesundheitssystem in dem kriegszerstörten Land sei völlig zusammengebrochen, sagte der Vorstandsvorsitzende, Volker Westerbarkey. Es fehle an Essen, sauberem Wasser, Strom, Benzin und Medizin. 22 der 27 Millionen Einwohner seien laut den Vereinten Nationen auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Der Bedarf an medizinischer Hilfe ist riesig, der Großteil der medizinischen Einrichtungen ist zerstört", sagte Westerbarkey. Zuletzt wurde in der Nacht zu Dienstag ein Cholera-Behandlungszentrum der Hilfsorganisation dem Erdboden gleichgemacht.

Viele Kinder seien akut mangelernährt, als Folge von Krankheiten wie Diphtherie, die durch Impfungen eigentlich vermieden werden könnten. Derzeit sei "Ärzte ohne Grenzen" im Jemen mit mehr als 1.900 Mitarbeitern in landesweit 13 Krankenhäusern und Gesundheitszentren aktiv, 20 weitere Einrichtungen würden unterstützt. Der größte Teil der Einnahmen und Spendengelder floss 2017 in das Land. Seit Beginn des Konfliktes 2015 hat "Ärzte ohne Grenzen" dort laut Westerbarkey mehr als 72.000 Patienten behandelt und über 54.000 Operationen durchgeführt.

Ingesamt leistete "Ärzte ohne Grenzen" 2017 in rund 70 Ländern weltweit Nothilfe. Die deutsche Sektion finanzierte mit 136 Millionen Euro Projekte in mehr als 40 Einsatzländern. Die Gesamtausgaben lagen bei 154,6 Millionen Euro, die Gesamteinnahmen bei 153,6 Millionen Euro. Davon waren 147,7 Millionen Euro private Spenden und Zuwendungen, knapp 15 Millionen mehr als im Vorjahr.