Simultankirche: Ein Gotteshaus für alle

Simultankirche: Ein Gotteshaus für alle
In immer mehr Städten gibt es Citykirchen - ein ökumenisches, spirituelles Angebot mitten im Gedrängel der Fußgängerzone. Dabei sind solche Simultankichen nicht neu. Schon lange gibt es Kirchen, die sich mehrere Konfessionen teilen. Beispielsweise im rheinhessischen Bechtolsheim.

Dick eingepackt in die vor Dreck starrende Jacke, vor sich einen Kinderwagen mit seinen kompletten Habseligkeiten, den Blick Richtung Seitenaltar, kniet der Obdachlose in der Aachener Citykirche St. Nikolaus und betet. Citykirche ist Kirche in der City und für die City. Zu diesem niederschwelligen von Anfang an ökumenischen Angebot gehören der betende Obdachlose genauso wie der Passant, der zur Kurzandacht am Mittag in der Kirche innehält oder auch der Konzertbesucher am Abend.

In den 90er Jahren wurde die alte Franziskanerkirche profaniert. Doch was tun mit so einem Schmuckstück mit prächtigen Altären und Skulpturen? Toni Jansen, damals katholischer Regionaldekan, hatte die Idee, aus der Kirche einen ökumenischen Ort für die Citypastoral zu machen. Inzwischen leiten Pfarrerin Silvia Engels und Pastoralreferent Dieter Spoo die Kirche gemeinsam. "Wir wollen in der Stadt christliches Profil zeigen". Das zeigt sich unter anderem in den vielen spirituellen Angeboten, die Pfarrerin Engels besonders am Herzen liegen.

So gab es zum Valentinstag einen Segnungsgottesdienst für Verliebte. Auch Demenzkranke, Angehörige von Suizidopfern oder Eltern, die ihre Kinder nach der Schule "in die Welt" entlassen, feiern dort besondere ökumenische Gottesdienste. "Kirche muss sich dahin vernetzen, wo Menschen Interesse an Sinnsuche haben", sagt Spoo. Der Bedarf an besonderen Angeboten ist einfach da. "Viele Menschen fühlen sich in den normalen Gemeinden nicht wahrgenommen", sagt Spoo. Das heißt allerdings keinesfalls, dass die Citykirchenarbeit eine Konkurrenz für die Kirchengemeinden ist. Denn die waren in Gestalt der katholischen Innenstadtgemeinden  und der evangelischen Gemeinde Aachen als Mitträger immer mit im Boot. Auch das finanzielle läuft gemeinsam, allerdings tragen die Katholiken als größerer Partner etwas mehr. Sie tragen eine ganze Stelle und nicht zuletzt das Kirchengebäude selbst.

Die Citykirche ist auch ein Ort der Kultur

Die Citykirche ist auch ein Ort der Kultur. Ausstellungen und Theaterstücke mit christlichem Bezug finden regelmäßig statt. Aber nicht nur. Das persönliche Gespräch spielt eine große Rolle. Täglich standen Geistliche, Ordensleute und Laien bereit. Im Moment ist das Angebot etwas ausgedünnt, auch das Gesprächsangebot musste ausfallen. In der Silvesternacht 2010 hatten Jugendliche mit Feuerwerkskörpern die Kirche in Brand gesteckt, dem unter anderem der herrliche Hochaltar zum Opfer fiel. Der Chor ist nach wie vor eingerüstet und lange war die Kirche ganz geschlossen. Man muss sich also geistlich wie materiell wieder "finden". Doch Dieter Spoo und Silvia Engels sind zuversichtlich, noch in diesem Jahr wieder voll durchstarten zu können.

Eine Citykriche gibt es nicht nur in Aachen. Die meisten gehören zu einer Konfession. Bekannt ist beispielsweise die evangelische Antoniterkirche auf der Kölner Schildergasse mitten im Einkauftrubel. Ökumenische Citykirchen gibt es auch in Konstanz, Oberhausen und Reutlingen. Andere Cityseelsorgen nutzen eigene teilweise ökumenische "Kirchenläden" oder bestehende konfessionelle Gemeindekirchen.

Ganz anders als in Aachen ist die ökumenische Situation im rheinhessischen Bechtolsheim. In der alten Kaiserstadt gingen in den 90ern Christen aufeinander zu, um bei den Menschen in der City christliches Profil zu zeigen. Im rheinhessischen Weinort teilen sich die evangelische beziehungsweise reformierte (bis 1822) und die katholische Kirchengemeinde seit Palmsonntag 1685 die herrliche alte Dorfkirche  aus dem 15. Jahrhundert. Die Ganerbengemeinschaft, damals ritterschaftliche Landesherren, war selbst im Glauben gespalten und sich daher über die Konfession des Dorfes uneinig. Der Glockenturm gehört der bürgerlichen Gemeinde. Rechts und links der Kirche stehen noch immer die alten Schulhäuser, wo sich noch im 19. Jahrhundert die Pfarrer mit "ihren" oft revolutionär gesonnenen Lehrern manchen Streit lieferten. Rheinhessen ist eben das Land der Freigeister und Revolutionäre.

Von den 65 deutschen Simultankirchen befinden sich 29 im heutigen Rheinland-Pfalz

In Bechtolsheim wie in manch anderem Ort in Rheinhessen und der Pfalz herrscht eine in Jahrhunderten gewachsene "Ökumene der Praxis". Der Wein hatte pünktlich im Keller zu sein, egal, ob die Nachbarschaftshilfe katholisch oder reformiert war. Das zeigt besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manche Klage der katholischen Ortspfarrer beim streng romtreuen Bischof Wilhelm-Emmanuel von Ketteler über die "unkirchliche" Haltung der rheinhessischen "Schäflein". Das gilt besonders für die ehemalige Kurpfalz mit ihrer seit 1689 eingeführten Religionsfreiheit. Die führte zu bis zu fünf Konfessionen (Reformierte, Lutheraner, Katholiken, Juden und Mennoniten) in kleinsten Dörfern, wo sich dann oft Evangelische und Katholiken die Kirche teilen mussten. So verwundert es nicht, dass sich von den circa 65 deutschen Simultankirchen, also Kirchen, die sich mehrere Konfessionen teilen, 29 im heutigen Rheinland-Pfalz und 19 im ehemals pfälzischen Teil Bayerns befinden.

Die Zusammenarbeit funktionierte auch abhängig von den Pfarrern und der kirchlichen "Großwetterlage" trotz kleiner Irritationen immer gut. Der katholische Pfarrgemeinderatsvorsitzende Helmut Maas erzählt von einem früheren evangelischen Pfarrer, der Anstoß an der Osterkerze genommen hat.

Auch heute ist die Ökumene kaum organisiert, sie ist einfach da. Spezifisch ökumenische Veranstaltungen sind eher selten. Zur Kirchweih, der "Kerbe", in Rheinhessen ein großes Fest mit "Weck, Woscht un Woi" und zum ersten Advent feiern die Christen einen ökumenischen Gottesdienst. Aber man besucht und hilft sich gegenseitig. "Wir gehen in der Passionszeit zu den evangelischen Andachten, und in der Adventszeit kommen die Evangelischen zu uns", erzählt der katholische Küster Josef Racky. Auch Pfarrer Markus Krieger, der seit einigen Wochen die evangelische Gemeinde leitet, denkt die Ökumene immer mit und ist ein wenig stolz darauf, in einer Kirche mit einer derart langen und ungewöhnlichen Geschichte eingesetzt zu sein.

Eine einzelne Kirchengemeinde könnte sich ein solches Schmuckstück nicht leisten

Bei besonderen Anlässen sind die Wege kurz. "Wenn die Evangelischen Konfirmation oder wir Firmung haben, werden wir uns schnell über die Gottesdienstzeiten einig", sagt Helmut Maas. Auch wenn es in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben hat, das Simultaneum aufzuheben, heute sind beide Gemeinden nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen sehr glücklich darüber. "Wir sind einfach froh, dass wir diese schöne Kirche haben", sagt Pfarrer Krieger. Eine einzelne Kirchengemeinde könnte sich ein solches Schmuckstück schlicht nicht leisten.

Und was auch zählt: "Wichtig ist, dass sich die Küster gut verstehen", sagt Josef Racky und lobt seine evangelische Kollegin Sandra Friedrich. Im Moment sind Altar und Kanzel "evangelisch" mit Tuch und Altarbibel gedeckt. Aber die Blumen und die Osterkerze sind inzwischen ökumenisch, und das ist auch gut so. Inzwischen überlegen die Bechtolsheimer Gemeinden auch "formal" mehr ökumenische Aktionen zu starten. Denn auch auf dem Land zählt zunächst einmal wie in der Stadt das christliche Profil, das beide Kirchen eint.


Dr. Klaus Schlupp ist Theologe und freier Journalist in Aachen. Er wurde 2001 mit einer kirchengeschichtlichen Arbeit über das Bistum Mainz promoviert.