Unterricht: Abschied vom preußischen Dreivierteltakt

Unterricht: Abschied vom preußischen Dreivierteltakt
Nach 100 Jahren des 45-Minuten-Unterrichts suchen immer mehr Schulen neue Zeitmodelle. Schuld daran ist vor allem das schlechte Abschneiden Deutschlands in internationalen Bildungsstudien. Lernen soll anders werden, entspannter, mit mehr Muße - in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Hessen oder Baden-Württemberg, in denen die freie Zeiteinteilung möglich ist. Dazu gehört auch eine andere Zeiteinteilung der Stunden.
29.09.2011
Von Sabine Damaschke

Auf dem Rücken einen schweren Ranzen, im Kopf lauter Vokabeln und Zahlen, im Bauch ein Gefühl von Anspannung und Hunger - so ist Sira Steuer viele Jahre nach Hause gekommen. Seit eine Schulstunde an ihrer Realschule nicht mehr 45, sondern 90 Minuten dauert, macht sie sich entspannter auf den Heimweg. "Ich fühle mich überhaupt nicht mehr so ausgepowert", sagt die 15-Jährige aus Lindlar bei Köln. "In unserer Schule ist es ruhiger, ich kann mich besser konzentrieren und so viele Bücher wie vor zwei Jahren muss ich auch nicht mehr mit mir herumschleppen."

Die Erfahrungen mit dem neuen Zeitmodell seien bislang nur positiv, sagt Rektor Lüder Ruschmeyer. Der Realschule Lindlar geht es dabei ähnlich wie vielen anderen Schulen in Deutschland. 100 Jahre nach der Einführung der 45-minütigen Schulstunde am 2. Oktober 1911 verabschieden sich immer mehr Lehrer und Schüler vom traditionellen Dreivierteltakt. Sie kehren zu einer Unterrichtsstruktur zurück, die der preußische Kultusminister August von Trott zu Solz damals bewusst verändert hatte.  

Viele Lehrer und Professoren beklagten sich Ende des 19. Jahrhunderts über die mangelnde Konzentration ihrer Schüler am Nachmittag. Eine bleierne Schwere ruhe über der Klasse, hieß es in der "Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung". Mit dem Erlass vom 2. Oktober 1911 verabschiedete sich Preußen schließlich vom Nachmittagsunterricht. Die bisherige Zahl der Unterrichtsstunden sollte aber erhalten bleiben, also wurde einfach jede Stunde um 15 Minuten gekürzt. Jahrzehntelang stellten weder Pädagogen noch Schüler oder Eltern den deutschen Sonderweg der Halbtagsschule infrage.

"Wir brauchen eine neue Art des Lernens"

Das schlechte Abschneiden Deutschlands in internationalen Bildungsstudien und die Einführung von G8 an den Gymnasien, wo nun nicht mehr nach neun, sondern acht Jahren Abitur gemacht wird, führten zu einem Umdenken. "Wir brauchen eine neue Art des Lernens", fordern Praktiker wie Gerhard Fischer. Der Direktor des Gymnasiums Zum Altenforst in Troisdorf bei Bonn hat vor vier Jahren damit begonnen, den Unterricht anders zu organisieren. 60 Minuten dauert an seinem Gymnasium eine Schulstunde. Vier gibt es am Vormittag, zwei am Nachmittag. Dazwischen haben alle Schüler eine einstündige Mittagspause.

"Wir sind bewusst auf eine Ganztagsorganisation umgestiegen, denn nur so ist ein Lernen mit Muße möglich", meint Fischer. 60 Minuten pro Fach entsprechen seiner Ansicht nach dem natürlichen Lernrhythmus der Schüler besser als das Doppelstunden-Modell. "Alles, was man sich von 90 Minuten verspricht, lässt sich auch in 60 Minuten erledigen." Lüder Ruschmeyer dagegen zieht das Doppelstundenmodell vor, das mehr Zeit für Gruppenarbeit, Experimente oder Präsentationen der Schüler lasse. Andere Schulen wie das Gymnasium in Korschenbroich bei Neuss wählen noch eine andere Taktung. Hier dauert eine Unterrichtsstunde 67,5 Minuten.

Doch egal, ob der Unterricht 15, 22,5 oder 45 Minuten länger dauert - alles sei besser als der alte Dreivierteltakt, finden die Leiter der Schulen, die es anders machen. In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Hessen oder Baden-Württemberg, wo die Uhren in Schulen anders ticken dürfen, sind Lehrer und Schüler zufrieden. Die Abkehr von der 45-Minuten-Stunde ist Bestandteil vieler reformpädagogischer Konzepte. Der Trend zu anderen Zeittakten werde sich in den kommenden Jahren noch verstärken, prophezeit Marianne Demmer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Intensiv erworbenes Wissen ist später besser abrufbar

Dafür nehmen die Schulen auch größere Umstrukturierungen im Stundenplan in Kauf. So können Nebenfächer in der Regel nicht mehr einmal pro Woche unterrichtet werden. Sie stehen dafür in einem Halbjahr häufiger auf dem Stundenplan, im nächsten müssen sie dann pausieren. "Intensiv erworbenes Wissen ist später besser abrufbar, als wenn es in kleinen Häppchen einmal pro Woche gelehrt wird", sagt Gymnasialleiter Fischer und verweist auf die Hirnforschung. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther etwa betont immer wieder, wie wichtig mehr Zeit fürs Lernen ist. Kinder kämen mit einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten auf die Welt, sagt der Hirnforscher. "Dafür müssen wir ihnen Erfahrungs- und Gestaltungsräume geben."

Dazu gehören für Gymnasialdirektor Fischer auch hell und freundlich gestaltete Klassenräume - und der Verzicht auf eine schrillende Schulglocke, die den Zeittakt vorgibt. Beruhigend und wohltuend sei die neue Stille, schwärmt der Pädagoge. Schüler Max Mantsch dagegen vermisst den Gong. "Die Umstellung auf den 60 Minuten-Takt an unserer Schule finde ich wirklich klasse", sagt der 15-jährige Schülervertreter. "Aber es nervt, wenn manche Lehrer nach einer ganzen Stunde nicht aufhören zu reden."

epd