Als Thilo S. eine Fischgräte kaufte, auf dass er klug werde

Als Thilo S. eine Fischgräte kaufte, auf dass er klug werde
Vor einem halben Jahr erschien Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" und wurde zum Bestseller. Inzwischen sind 1.250.000 Exemplare verkauft. Die Bundesbürger lesen offenbar gerne, dass ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Autor Thilo Sarrazin hat mit seinen umstrittenen Thesen zu Islam, Intelligenz und Bevölkerungspolitik eine breite Debatte ausgelöst. In zwei Büchern lässt sich die mediale Auseinandersetzung nun noch einmal nachlesen. Die Diskussion hatte auch ihre guten Seiten: So hätte Leon de Winter nicht die herrlich schräge Fischgräten-Geschichte über eine Begegnung mit Sarrazin geschrieben.
27.02.2011
Von Bernd Buchner

Muslimisch zu sein, ist in Deutschland längst keine religiöse Frage mehr, sondern ein Politikum. Das war zwar schon vor Sarrazins Bestseller so, der brave türkische Gemüsehändler kann längst nicht mehr umhin, für den Islam herhalten zu müssen. Doch "Deutschland schafft sich ab" hat die Diskussion wesentlich ausgeweitet und verschärft. So wie Sarrazin vorgehalten wurde, er sei Rassist und ein Biedermann als Brandstifter, so stehen Migranten seither unter dem pauschalen Verdacht, sie wollten sich nicht integrieren.

Wer von den vielen Käufern das Buch gelesen hat, dem ist vielleicht neben den brisanten Inhalten auch der Ton Sarrazins aufgefallen. Seine Sprache ist kalt, bürokratisch, abschätzig. Schon in der Einleitung wettert er immer wieder heftig gegen "Gutmenschen" – Schande über jede Sprache, in der so ein Begriff zum Schimpfwort wird - und die vermeintliche "politische Korrektheit". Und stellt sodann auf 450 Seiten krause Thesen auf. Es gebe ein "Gesellschaftsprogramm", das auf die Abschaffung der Deutschen hinauslaufe.

Sehnsucht nach Darwins "Zuchtwahl"

Der Autor verbindet damit die Mär vom dummen und lendenstarken Muslim. Türkische und arabische Zuwanderer seien zwar unterdurchschnittlich intelligent, bekämen dafür aber mehr Kinder. Grund für die mangelnde Schlauheit seien "zu 50 bis 80 Prozent" die Gene. Sarrazin will eine neue Bevölkerungspolitik, wünscht sich die Darwinsche "Zuchtwahl" zurück. Und will jeder Frau unter 30, die ein Kind in die Welt setzt, 50.000 Euro Gebärprämie zahlen. "Die Prämie", schreibt er, "dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden" – für Frauen mit ausreichender Intelligenz.

Als die Streitschrift Ende August 2010 erschienen war (Foto links: dpa) und die Debatte so richtig heftig wurde, beschlich einen angesichts der feuerroten Sarrazinstapel in den Buchhandlungen ein merkwürdiges Gefühl. Profit mit Ressentiments, ist das legitim? Und dann die Käufer des Buches, was mochten sie wohl denken? Was waren ihre Motive? Wie viel tatsächliches Interesse an Sarrazins Thesen war dabei? Einige Kunden griffen verschämt und wie ertappt zu dem Buch. Andere waren sichtlich stolz: Jetzt habe ich den Gutmenschen ein Schnippchen geschlagen ...

Bei seinen öffentlichen Auftritten war Thilo Sarrazin stets von Fans und Autogrammjägern umgeben – die Zustimmung, die ihm entgegenschlug, stand in merkwürdigem Kontrast zur fast einhelligen Ablehnung in Politik und Medien. Umso erstaunlicher war einige Wochen später das Fazit des obersten ARD-Demografen Jörg Schönenborn, es habe in der Bevölkerung nie eine Mehrheit für Sarrazins Thesen gegeben. Der Autor von "Deutschland schafft sich ab" biete lediglich eine Projektionsfläche für die verbreitete Angst vor dem sozialen Abstieg.

SPD nahm das "Juden-Gen" übel

Sozial ging es bald nach Veröffentlichung des Buches auch für den Autor schnell bergab. Er verlor seinen Job als Bundesbankvorstand, und als SPD-Mitglied sieht sich Sarrazin einem Ausschlussverfahren gegenüber. Eine Entscheidung fällt nicht vor diesem Herbst. Die Partei hatte ihm vor allem das Wort vom "Juden-Gen" übelgenommen, das in einem Interview fiel. Dort, wo sich Sarrazin in dem Buch auf höchste prekäre Weise über Genetik, Eugenik und Bevölkerungspolitik äußert, wurde er von Wissenschaftlern rasch und nachdrücklich widerlegt.

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Geblieben ist aber die Diskussion über Migration und Integration. Sie erwies sich als nicht ganz fruchtlos, wie sich in zwei vor kurzem erschienenen Sammelbänden nachlesen lässt. Der Band der Deutschlandstiftung Integration versammelt Texte, die in den sechs Wochen nach Veröffentlichung des Sarrazinbuches in großen deutschen Zeitungen erschienen. Erkennbar wird dabei, mit welcher Fulminanz die Medien das Thema aufnahmen – und wie schnell dabei auch von einer "Hetzjagd" auf Sarrazin die Rede war.

"Die Zeit" hat einen eigenen Band mit Texten aus der Wochenzeitung vorgelegt – sie setzen zeitlich vorher an, woraus hervorgeht, dass es eine Debatte mit Anlauf war. "Man hat sich Sarrazin zum Helden erkoren und fühlt sich nun ermuntert, Dampf abzulassen", stand etwa in der "Zeit" zu lesen. Und: "Es ist an der Zeit, diese überschnappende Debatte auf den Boden der Realität zurückzuholen." Jörg Lau schrieb diese Sätze bereits im Oktober 2009. Damals hatte Sarrazin in einem längeren Gespräch mit der Zeitschrift "Lettre" über "Importbräute" und "Kopftuchmädchen" gelästert.

"Sie reagieren schnell, Dr. Sarrazin"

Was bleibt? Ein schales Gefühl, irgendwie. Und Freude über die ironische Kraft eines Leon de Winter, der sich durch die Causa Sarrazin zu einer wunderbaren Parabel anstiften ließ: "Das Geheimnis der jüdischen Intelligenz". Eine fiktive Zugfahrt der beiden Herren, bei der Sarrazin dem Autor für 100.000 Euro eine Heringsgräte abkauft – sie macht klug, alle Juden haben sie im Sakko. Thilo S. aber denkt sich hernach, für das Geld hätte er auch 100.000 Heringe samt Gräten kaufen können. "Sie reagieren schnell, Dr. Sarrazin", so die Antwort. "So schnell ist noch keiner auf jüdisch klug geworden."

Sarrazins Buch und die publizistischen Reaktionen darauf noch einmal zu studieren, ist eine interessante Erfahrung. Antwort von muslimischer Seite gibt zum Beispiel das "Manifest der Vielen - Deutschland erfindet sich neu", herausgegeben von der Publizistin Hilal Sezgin. Es scheint fast, als sei die Diskussion über Integration in gewisser Weise über Sarrazin hinweggegangen – daran ändert auch nicht die jüngste Aufregung um eine Einladung des Autors an die Evangelische Akademie Tutzing wenig. Am Samstag wird er dort sprechen. Bleibt zu hoffen, dass dort keine Sätze fallen wie in einem Gespräch mit "Zeit"-Autor Patrik Schwarz: "Ach, wissen Sie, Martin Luther hat als junger Mensch sein 'Lettre'-Interview an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg genagelt." Welch ein Vergleich.

Lesetipps:

Deutschlandstiftung Integration (Hg.): Sarrazin. Eine deutsche Debatte, München 2010. Piper Verlag, 239 Seiten, 10 Euro.

Patrik Schwarz (Hg.): Die Sarrazin-Debatte. Eine Provokation – und die Antworten, Hamburg 2010. Edel Germany GmbH, 255 Seiten, 14,95 Euro.


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für das Ressort Kirche + Religion.