Ich glaube, ich lese

Silke Gabrisch mit Kindern
Tobias Keil/Deutsche Bibelgesellschaft
Silke Gabrisch, Referentin für internationale Arbeit, verteilt mit einem Team der Bibelgesellschaft in Kambodscha Materialien für Leselern-Kurse an Kinder.
Mission.de
Ich glaube, ich lese
Lesen und schreiben zu können, ist ein wichtiger Schlüssel zum Leben und zum Glauben. Viele Bibelgesellschaften bieten daher Alphabetisierungskurse mit der Bibel an. Die Weltbibelhilfe unterstützt einige solcher Projekte. Silke Gabrisch von der Weltbibelhilfe der Deutschen Bibelgesellschaft war 2023 zu Gast bei der Bibelgesellschaft in Kambodscha. Denn seit vielen Jahren fördert die Weltbibelhilfe Lese- und Schreiblernkurse mit der Bibel in dem südostasiatischen Land. Zum ersten Mal konnte sich die Referentin für internationale Arbeit vor Ort selbst einen Eindruck verschaffen.

Von Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh aus fahren wir gut eineinhalb Stunden nach Norden. In der Provinzhauptstadt Kompong Chhnang rangieren wir mit unserem Jeep auf die kleine Fähre, die uns nun über verschiedene Nebenarme des Tonle-Sap-Flusses in ungefähr einer halben Stunde in den Bezirk Kompong Leaeng bringt. Auf der Fahrt sehen wir einsame, einfache Fischerhütten, Reisfelder und im Hintergrund den sagenumwobenen Berg Touk Meas.

Am anderen Ufer angekommen, holen wir den örtlichen Pastor Moa Rad an seiner Kirche ab. Er ist verantwortlich für acht kleine Gemeinden entlang des Flusses und hat dort auch die Alphabetisierungskurse der Bibelgesellschaft etabliert. Im Haupterwerb baut er Bohnen an.

Nach kurzer Fahrt sind wir da: Neben einem der typischen Stelzenhäuser steht eine große Wellblech-Dachkonstruktion, die der kleinen Gemeinde als Versammlungsort dient. Darunter haben sich bereits viele Kinder des Dorfes auf blauen Plastikstühlen eingefunden. Gespannt warten sie auf uns. Wir fragen, wer hier ist, um bei dem Lese- und Schreiblernkurs mitzumachen. Alle melden sich begeistert. Als ich wissen will, wer denn schon lesen kann, gehen zögerlich zwei bis drei Hände nach oben.

Dieses Erlebnis ist nicht ungewöhnlich und wiederholt sich während meiner Reise viele Male. Während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975-1979) war Bildung in Kambodscha komplett verboten und Intellektuelle wurden umgebracht. Heute gibt es zwar in der Theorie eine Schulpflicht, doch gerade auf dem Land besuchen viele Kinder die Schule nur unregelmäßig, weil sie auf dem Feld mithelfen oder auf ihre Geschwister aufpassen müssen. Selbst wenn sie dorthin gehen, ist der Unterricht oft nicht gut; häufig erscheint der Lehrer nur kurz oder gar nicht, weil er selbst nach seinen Feldern sehen muss, um über die Runden zu kommen. Die Klassen sind außerdem sehr groß, individuelle Unterstützung ist quasi unmöglich. Und viele Eltern können ihren Kindern nicht helfen, da sie selbst nicht lesen können. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass auch zehn- oder sogar 13-Jährige nicht lesen können. Zwar liegt die Alphabetisierungsrate offiziell bei circa 80 Prozent, aber ich habe nach meinem Besuch doch einige Zweifel an dieser Zahl.

"Tatsächlich wächst das Christentum rasant, auch weil sich viele Kirchen für die Belange der Menschen einsetzen."

Die Kinder setzen sich in zwei Gruppen zu je zehn und zwölf Teilnehmenden zusammen. In diesen werden sie sich in den nächsten drei Monaten zweimal in der Woche für circa eineinhalb Stunden treffen, um anhand von biblischen Geschichten lesen und schreiben zu lernen. Die meisten von ihnen kommen aus christlichen Familien. In Kambodscha sind nach offiziellen Angaben nur ca. 0,3 Prozent der Bevölkerung Christ:innen, doch vermutlich liegt diese Zahl mittlerweile viel höher – möglicherweise bei bis zu fünf Prozent. Tatsächlich wächst das Christentum rasant, auch weil sich viele Kirchen für die Belange der Menschen einsetzen – zum Beispiel mit Bildungsangeboten wie diesem, Englisch- oder Computerkursen.

Man sieht es an den Gesichtern: Es ist ein besonderer Moment, als jedes Kind ein Paket mit dem Kursmaterial bekommt. Darin enthalten sind das Lehrbuch, ein Schreibheft und ein Bleistift sowie zwei Büchlein mit illustrierten biblischen Geschichten: Jesu Geburt und seine Auferstehung. Es kommt nur selten vor, dass diese Kinder ein so wertvolles Geschenk erhalten. Entsprechend sorgsam stecken sie es in ihre Rucksäcke. Dann müssen viele los: Die Schule beginnt hier erst mittags. Sie ist zwei Kilometer entfernt, ein paar nehmen ihre Fahrräder, der Rest läuft.

Die Bibelgesellschaft in Kambodscha stellt Lernmaterialien mit biblischen Inhalten für die Leselern-Kurse zur Verfügung.

Seit 2003 bietet die Bibelgesellschaft in Kambodscha Alphabetisierungskurse an. Sie schult Kursleiter:innen, die das Programm in ihren Gemeinden umsetzen. Außerdem stellt sie die Lehrbücher zur Verfügung und gibt die Abschlusszertifikate aus. Jedes Jahr werden circa 300 Kurse mit 3000 Absolvent:innen durchgeführt. Zwar gibt es auch staatlich finanzierte Alphabetisierungskurse, doch man erzählte mir, dass diese weniger gut organisiert und effektiv seien. Daher nehmen regelmäßig auch Nichtchrist:innen das Angebot der Gemeinden an, wo sie herzlich willkommen geheißen werden.

"Das Besondere an diesem Programm ist, dass es nicht nur Bildung vermittelt, sondern auch den Glauben."

An einem anderen Tag sind wir in dem Ort Ou Ya Dav in der nordwestlichen Provinz Ratanakiri. Wir besuchen eine große Steinkirche der Christian & Missionary Alliance. Sie hat über 250 Mitglieder, seit 2018 werden hier Alphabetisierungskurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene angeboten, und zwar mehrmals in der Woche. Ropouy Pros, einer der zwei Kursleiter, erzählt mir: "Viele beginnen wirklich bei null. Das Besondere an diesem Programm ist, dass es nicht nur Bildung vermittelt, sondern auch den Glauben."

Heute ist der Kursabschluss, jeder erhält ein Zertifikat. Circa 50 Leute haben sich eingefunden. Die zweifache Mutter Poh You meint: "Es macht mir große Freude, bei dem Alphabetisierungskurs in meiner Gemeinde teilzunehmen. Jetzt kann ich endlich lesen und schreiben – vorher konnte ich das nicht. Als ich klein war, musste ich meiner Mutter auf dem Feld helfen, daher bin ich selbst nicht zur Schule gegangen. Ich kann nun auch meinen Kindern beim Lernen helfen. Auch mein Mann hat sich entschlossen, in den Kurs zu kommen." Ähnlich geht es vielen Erwachsenen hier.

Bevor sie ihr Zertifikat erhalten, zeigen uns ein paar mutige Frauen, was sie gelernt haben. Sie setzen sich im Kreis zusammen, in der Mitte platziert der Kursleiter ein Abspielgerät. Das Konzept des Programms lautet "Lernen durch Zuhören". Die Teilnehmenden folgen den Anweisungen aus dem Lautsprecher, wiederholen im Chor die vorgesprochenen Sätze und deuten auf die entsprechenden Zeilen im Arbeitsheft. So lernen sie nach und nach, selbstständig zu lesen. Der Kursleiter sorgt dafür, dass alle folgen können und zum Beispiel die richtige Seite finden.

Im ersten Kurs liegt der Schwerpunkt zu 90 Prozent auf dem Lesen, zu je fünf Prozent wird Schreiben und auch Rechnen geübt. Er beginnt mit der Schöpfungsgeschichte und einfachen Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen, die alle aus ihrem Alltag kennen. Die Frauen aus einer der Erwachsenengruppen haben nach drei Monaten das erste Buch abgeschlossen. Für sie geht es nun mit dem zweiten Kurs weiter, der wieder drei Monate dauern wird und den Schwerpunkt auf das Schreiben legt.

Viele Bibelgesellschaften weltweit bieten Alphabetisierungskurse an. Denn es ergibt wenig Sinn, Bibeln zu drucken und zu verbreiten, wenn sie die Empfänger:innen nicht lesen können. Insofern ist es auch eine Aufgabe bibelgesellschaftlicher Arbeit, entsprechende Angebote zu schaffen. Darüber hinaus ist es für Christ:innen ein motivierendes Ziel, endlich selbst in der Bibel lesen zu können. Das Lernen wird erleichtert, wenn einzelne biblische Geschichten bereits vertraut sind. Und wo sie noch neu sind, kann der Alphabetisierungskurs auch etwas zur Glaubensbildung beitragen. Mich begeistert es, wie vielfältig wirksam solche Kurse sind. Sie verleihen nicht nur mehr Würde, Selbstwirksamkeit und Handlungsspielraum, sondern stärken darüber hinaus auch den Glauben. Sie tragen zum Wohl ganzer Familien und Dorfgemeinschaften bei.

"Biblische Werte wie Ehrlichkeit und Verlässlichkeit wirken in Kambodscha auf viele Menschen attraktiv", sagt Pisit Heng, Leiter der Bibelgesellschaft in Kambodscha.

Bei der Zertifikatsübergabe in Ou Ya Dav verteilen wir noch Bibeln. Fast keine:r in der Gemeinde besitzt eine eigene. Dankbar nimmt der örtliche Pastor die Kartons mit verschiedenen Ausgaben entgegen. Seine Kirche wächst stark, der Bedarf ist daher riesig. Und er wird größer, je mehr seiner Gemeindeglieder lesen können.

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