Netzwerk in Jugendhilfe deckte Kindesmissbrauch

Weinender Junge in Schule
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Im Rahmen des "Kentler-Experiments", wurden Kinder und Jugendliche von den Jugendämtern mit dem Ziel der Resozialisierung bewusst an pädophile Pflegeväter vermittelt.
Studie
Netzwerk in Jugendhilfe deckte Kindesmissbrauch
Wichtige Akteure der Reform-Pädagogik haben über Jahrzehnte sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zugelassen. Laut einer Studie der Universität Hildesheim wirkte ein bundesweites Netzwerk der Jugendhilfe bis in die 2000er Jahre.

Ein bundesweites Netzwerk aus Sozialpädagogen, Behörden und Wissenschaftlern hat bis in die 2000er Jahre sexuelle Gewalt in der Kinder- und Jugendhilfe gedeckt. Nach einer am Freitag in Berlin vorgestellten Studie der Universität Hildesheim erstreckte sich das Netzwerk um den 2008 gestorbenen Psychologen und Sexualwissenschaftler Helmut Kentler von Göttingen aus über Berlin, Hannover, Tübingen, Lüneburg und die Odenwaldschule in Hessen. Die Akteure, die unter anderem in leitenden Positionen des Berliner Landesjugendamtes saßen, vertraten seit den 1960er Jahren pädophile Positionen.

Im Zentrum stand das sogenannte Kentler-Experiment, bei dem von den Jugendämtern Kinder und Jugendliche mit dem Ziel der Resozialisierung bewusst an pädophile Pflegeväter vermittelt wurden. Kentler selbst war unter anderem von 1967 bis 1976 in leitender Position am Pädagogischen Zentrum Berlin tätig, einer Senatsbehörde, und Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Hannover. Er war zudem auch in Einrichtungen der evangelischen Kirche tätig.

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gab eine Studie zu Helmut Kentler und seinem Wirken im kirchlichen Raum in Auftrag. Eine erste Vorstudie dazu wurde im Juli 2023 vorgestellt. Sie beschäftigte sich mit dem Thema: "Die Bedeutung sexualpädagogischer Vorstellungen für die strukturelle Begünstigung sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche."

In der aktuellen Studie im Auftrag der Berliner Bildungsverwaltung kommen unter anderem sechs Betroffene zu Wort. Zudem wurden weitere Zeitzeugen befragt und 1.100 Akten der Bildungsverwaltungsverwaltung ausgewertet.
Die Wissenschaftlerinnen um den Hildesheimer Professor für Sozial- und Organisationspädagogik Wolfgang Schröer konstatieren darin eine regelrechte Entgrenzung des Kentler-Experiments, das von einem "old boys network" gedeckt wurde. Dazu gehörten leitende Mitarbeiter in Jugendämtern ebenso wie Heimleiter und Wissenschaftler. Vorwiegend handelte es sich demnach um Männer wie den 1989 gestorbenen Sozialpädagogen Martin Bonhoeffer, der in Berlin für das Heimkinderwesen zuständig war, und den 2010 verstorbenen früheren Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker.

Sexualisierte Gewalt im Sinne der Reform-Pädagogik in Kauf genommen

Die Autorinnen sprechen von einem "machtvollen Zusammenwirken von Wissenschaft, Fachexperten und Behörden", die in der Jugendhilfe gemeinsam über Jahrzehnte eine Fachpraxis etablierten, in der sexuelle Gewalt dazu gehörte. "Und Behörden wie das damalige Berliner Landesjugendamt haben die Infrastruktur gestellt", sagte Schröer. Sexualisierte Gewalt an den jugendlichen Schutzbefohlenen sei im Sinne der Reform-Pädagogik und der Heimreform von leitenden Akteuren in den Behörden bewusst in Kauf genommen worden: "Sie wurde geduldet, legitimiert und unterstützt."

Kritik daran wurde laut Schröer lange auch in der Wissenschafts- und Fachgesellschaftsszene abgewehrt und bagatellisiert: "Man sprach von Einzelfällen und hat die Heimreform-Bewegung regelrecht glorifiziert."
Die Studie ist der dritte Aufarbeitungsbericht zu dem Komplex. Erste Zwischenberichte waren 2020 und 2022 erschienen. Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) sagte, die Erkenntnisse gäben die Möglichkeit, bundesweit die Kinder- und Jugendhilfe "kritisch zu überprüfen".

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erklärte, der Bericht mache deutlich, wie wirkmächtig diese Strukturen bis heute seien. Ein gesetzliches Recht auf Akteneinsicht könne die Täter und Netzwerke sichtbar machen. Dafür sei politischer Wille nötig. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, betonte, die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder in der Jugendhilfe sei überfällig. Die Ergebnisse verdeutlichten, dass problematische Fallverläufe der Jugendhilfe systematisch überprüft und die Ursachen analysiert werden müssen.
 

Aufruf:

Betroffene, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden aufgerufen, sich an die Universität Hildesheim zu wenden, um die Aufarbeitung im geschützten Rahmen weiter zu unterstützen. E-Mail: jhberlin@uni-hildesheim.de