Ärztin: "Wir brauchen ein neues Schlafbewusstsein"

Martina Wenker
© epd-bild/Nancy Heusel
Wir verschlafen ein Drittel unseres Lebens nicht. Im Gegenteil: Ein erholsamer Schlaf ist der Schlüssel zu körperlich-seelischer Gesundheit, letztlich zu einem guten Leben, erklärt Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.
Interview zum Tag des Schlafes
Ärztin: "Wir brauchen ein neues Schlafbewusstsein"
Ausgerechnet am längsten Tag des Jahres, am Mittwoch ( 21. Juni), will der 2000 ins Leben gerufene "Tag des Schlafes" auf die Wichtigkeit gesunden Schlafes aufmerksam machen. Warum wir ohne Schlaf nicht leben können und was guten Schlaf ausmacht, erläutert die Internistin und Schlafmedizinerin Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.

Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) verrät sie zudem, warum manche Menschen schon nach fünf Stunden Schlaf energiegeladen aus dem Bett springen, während andere selbst nach acht Stunden noch müde sind.

epd: Frau Wenker, immerhin rund ein Drittel ihres Lebens verschlafen die meisten Menschen. Was wären wir ohne Schlaf?

Martina Wenker: Wir wären gar nichts. Schlaf ist lebensnotwendig. Wir brauchen Zeiten der körperlichen und geistig-seelischen Entspannung. Der Stoffwechsel und das Herz-Kreislauf-System können im Schlaf herunterfahren und sich erholen. Und auch psychische Ausgeglichenheit wäre ohne Schlaf nicht möglich. Es gibt brutale Experimente mit Schlafentzug, damit können Sie Menschen sowohl körperlich als auch seelisch regelrecht zerstören.

Wir verschlafen dieses eine Lebensdrittel also nicht, sondern ganz im Gegenteil: Ein erholsamer Schlaf ist der Schlüssel zu körperlich-seelischer Gesundheit, letztlich zu einem guten Leben. Fehlt er, können wir ernsthaft krank werden.

Was sind Warnzeichen, dass mein Schlaf gestört sein könnte?

Wenker: Bedenklich wird es, wenn ich morgens wie gerädert aufwache und mich tagsüber müde und kraftlos fühle, womöglich sogar spontan einnicke. Ab und zu kann so etwas vorkommen, aber wenn dieses Gefühl der Energielosigkeit die Tage öfter oder über einen längeren Zeitraum beherrscht, sollte ich das abklären lassen. Dazu reicht zunächst der Gang zum Hausarzt.

Wieviel Schlaf braucht der Mensch? Die oft als Faustregel genannten acht Stunden?

Wenker: Das ist bemerkenswert individuell. Der eine kommt bereits mit fünf Stunden Schlaf hin und fühlt sich morgens energiegeladen. Ein anderer schläft sieben oder acht Stunden und hat womöglich das Gefühl, es reicht gerade so. Ein eindeutiges "Richtig oder Falsch" gibt es nicht. Im Gegenteil. Es kann sogar zu Schlafstörungen führen, wenn sich eine "Eule" - also ein Mensch mit nach hinten verlagertem Wach-Schlaf-Rhythmus - das Leben einer "Lerche", also eines Frühaufstehers, antrainieren will. Die von Mensch zu Mensch unterschiedliche Chronobiologie, also gewissermaßen die innere Uhr, nach der sich auch unser Schlafbedürfnis richtet, lässt sich nicht nach Belieben austricksen.

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass das Schlafbedürfnis mit zunehmendem Alter nachlässt. Säuglinge schlafen bis zu 20 Stunden am Tag, ältere Menschen oft nur fünf oder sechs Stunden. Solange der Schlaf zu guter Erholung führt, sind diese individuellen Unterschiede überhaupt kein Problem.

Es gibt Menschen, die schwören auf einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Eine gute Schlafhygiene-Maßnahme?

Wenker: Wenn Sie die Zeit haben, sich mittags länger hinzulegen, spricht erst einmal nichts dagegen. Allerdings kann so ein ausgiebiger Mittagsschlaf den Nachtschlaf beeinträchtigen. Das erlebe ich immer wieder bei älteren Patientinnen und Patienten, die ihren Tag frei einteilen können. Die beklagen sich, dass sie nachts um ein Uhr hellwach im Bett sitzen. Das ist kein Wunder. Wer dem Schlafdruck am Tag zu sehr nachgibt, hat nachts einfach keinen mehr.

"Wer dem Schlafdruck am Tag zu sehr nachgibt, hat nachts einfach keinen mehr"

So individuell Schlaf auch sein mag: Das Leben sehr vieler Menschen ist starren Rhythmen unterworfen, die kaum Rücksicht auf unterschiedliche Schlaftypen nehmen. Wie soll man klarkommen, wenn äußere Anforderungen und innere Uhr völlig konträr laufen?

Wenker: In der Tat ist das ein Problem. Die meisten Menschen sind in ihrer Chronobiologie zum Glück einigermaßen anpassungsfähig oder haben einen zu ihnen passenden Arbeits- und Lebensrhythmus. Bei einem Teil der Menschen - oft solchen, die Schichtarbeit machen - wird durch dieses starke Auseinanderdriften von innerer Uhr und Lebensrhythmus die Schlafarchitektur regelrecht zerstört. Mitunter sogar dauerhaft, sodass Schlafstörungen zu einem lebenslangen Leiden werden.

Aber auch jenseits solcher Extremfälle kennt wohl jeder das Gefühl, nicht richtig "im Rhythmus" zu sein. Ich habe es zum Beispiel als Kind gehasst, dass die Schule immer schon um acht Uhr anfing. So geht es vielen Kindern. Sie quälen sich hundemüde aus dem Bett und sind mindestens in der ersten Unterrichtsstunde kaum zu gebrauchen. Warum fängt die Schule nicht erst eine Stunde später an? Und warum sind Arbeitszeitmodelle nicht wenigstens so flexibel, dass jeder Beschäftigte den Arbeitsbeginn seiner Chronobiologie anpassen kann?

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der innere Takt der meisten Menschen nicht exakt mit dem 24-Stunden-Rhythmus übereinstimmt. Die innere Uhr hat oftmals eher 25 Stunden. Das heißt, äußerer und innerer Rhythmus sind immer nur punktuell synchron. Meist entfernen sie sich voneinander oder bewegen sich aufeinander zu, was erklärt, warum wir uns bei gleichem Schlafverhalten nicht immer gleich fit oder müde fühlen.

"Warum fängt die Schule nicht erst eine Stunde später an?"

Der "Tag des Schlafes" ist ausgerechnet am 21. Juni, also dem längsten Tag des Jahres. Ist so viel Licht ein Schlafkiller?

Wenker: Zunächst fühlen sich die meisten Menschen an diesen langen, hellen Tagen vitaler und positiver gestimmt, was auch daran liegt, dass unser Körper unter Einfluss des Tageslichts das "Glückshormon" Serotonin bildet. Das Serotonin wiederum wird im Gehirn in das "Schlafhormon" Melatonin umgewandelt, allerdings erst nach Einsetzen der Dämmerung. Das zeigt, dass guter Schlaf zwar Dunkelheit benötigt, aber letztlich auch das Licht. Zudem ist es viel leichter, im Sommer ein Zimmer abzudunkeln oder eine Schlafbrille aufzusetzen als im Winter für Licht und eine gute Serotoninproduktion zu sorgen.

In einem Punkt wird Licht aber doch zunehmend zu einem Problem: Immer mehr Menschen sind bis in die Nacht hinein mit dem Smartphone oder Tablet beschäftigt. Das bläuliche Licht der LED-Displays verhindert die Melatoninausschüttung, folglich können einen diese Geräte tatsächlich den Schlaf rauben. Also lesen Sie vor dem Schlafen lieber ganz analog ein Buch!

In den Industriegesellschaften hat sich das Leben der meisten Menschen immer stärker verdichtet und beschleunigt. Das Hamsterrad dreht auf Hochtouren. Hat es erholsamer Schlaf in diesen Zeiten schwer?

Wenker: Wir brauchen einen Blickwechsel, ein neues Schlafbewusstsein. Wir sollten den Schlaf nicht als ineffiziente, also buchstäblich verschlafene Zeit abtun, sondern ihn in seiner elementaren Bedeutung für ein ausgeglichenes und gesundes Leben wertschätzen. Zudem ist Schlaf alles andere als ein passiver Zustand. Was im Schlaf so an Stoffwechselprozessen, an Erholung, an Reparaturarbeiten und an psychischer Verarbeitung stattfindet, das ist schon echt ein Hochleistungsbetrieb!