Hildesheim (epd). Im Bistum Hildesheim hat es nach Angaben unabhängiger Experten zu Zeiten des früheren Bischofs Heinrich Maria Janssen eklatante Missstände und schwere Versäumnisse im Umgang mit sexualisierter Gewalt gegeben. Fälle von Missbrauch seien über einen langen Zeitraum gezielt verschwiegen oder vertuscht worden, erklärten die Fachleute am Dienstag in Hildesheim. Nach mehr als zweijähriger Arbeit übergaben sie eine Studie mit zwei Bänden und rund 422 Seiten zur Amtszeit des 1988 gestorbenen Janssen zwischen 1957 und 1982 an den heutigen Bischof Heiner Wilmer und an den Sprecher der Betroffenen-Initiative des Bistums, Jens Windel.
„Wir haben umfangreiches Material im Archiv gesichtet, unzählige Akten gelesen, mit viele Zeitzeugen und Betroffenen gesprochen“, sagte die frühere niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne) als Leiterin der Expertengruppe: „Unser Aktenstudium belegt, dass Bischof Janssen betroffene Gemeinden, vor allem aber die missbrauchten Kinder, alleinließ, die skandalöse und gewaltförmige Heimerziehung als selbstverständlich hinnahm und bekannt gewordene Täter schützte, um den Ruf der katholischen Kirche und des Priesterstandes zu wahren.“
In keinem Fall sei bekannt, dass Janssen (1907-1988) sich für das Schicksal betroffener Kinder und Jugendlicher interessiert habe, bilanzieren die Experten. Im Gegenteil: Durch undurchsichtige Versetzungsmanöver habe er in Kauf genommen, dass Kleriker weiterhin sexualisierte Gewalt verüben konnten. In einem Fall sei ein Priester sogar nach Südamerika versetzt worden, um ihn zu schützen.
So habe Janssen eine Kultur geprägt, die sich auch auf seine Nachfolgergenerationen übertragen habe: „Durch jahrzehntelange Ignoranz wurden die Bedingungen für Aufarbeitung immer schwieriger, während ganze Gemeinden von den Folgen sexualisierter Gewalt kontaminiert blieben und die Betroffenen mit ihrem Schicksal alleingelassen wurden.“ Erst mit Bischof Norbert Trelle habe sich nach 2010 das Vorgehen allmählich gewandelt.
In den Akten seien die Experten auf gravierende Mängel und Lücken gestoßen, sagte der frühere Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Das lasse darauf schließen, dass die Akten „entweder unentschuldbar schlampig geführt oder manipuliert“ worden seien. Zudem werteten die Fachleute 2.164 Fragebögen von aktuellen und früheren Mitarbeitenden des Bistums aus. Sie stießen auf insgesamt 81 Tatverdächtige, darunter 55 Kleriker. 23 von ihnen waren in einer früheren Studie noch nicht bekannt. 61 Tatverdächtige stammten aus Janssens Amtszeit.
Bischof Wilmer hatte die jetzige Untersuchung im April 2019 in Auftrag gegeben. Er zeigte sich erschüttert über die Ergebnisse. Als Konsequenz forderte er umfangreiche Reformen und eine Neuausrichtung der katholischen Sexualmoral. Für die Betroffenen sagte Jens Windel, sie litten ihr Leben lang unter den Missbrauchstaten. Traumatisierung, Angst und Panik machten ihnen zu schaffen. „Ein Großteil der Betroffenen kann wegen des Missbrauchs kein normales soziales Leben führen.“
Ausgangspunkt der Untersuchung war die Frage, ob Bischof Janssen selbst ein Missbrauchstäter war. Zwei frühere Messdiener hatten 2015 und 2018 angegeben, von Janssen sexuell missbraucht worden zu sein. „Wir haben keine weiteren Belastungen entdeckt, allerdings auch keine neuen entlastenden Aspekte“, sagte Niewisch-Lennartz. Auch konkrete Anhaltspunkte für ein regelrechtes Täter-Netzwerk hätten sich nicht gefunden.
Pädosexuelle Priester hätten zu Zeiten von Janssen aber Kinder immer in ihrer Nähe gehabt - ob im Zeltlager, in der Gemeinde oder in der Wohnung des Priesters: „Für Betroffene gab es keine sicheren Orte. Der Schutz durch Schweigen war fast perfekt.“ Kinder hätten aus Scham genauso geschwiegen wie ihre Eltern aus Angst vor einem Skandal.
Wilmer sprach in einer ersten Reaktion von „Systemversagen“. Die Untersuchung zeige eine völlige Verklärung eines bestimmten Priesterbildes. Für die Betroffenen forderte Jens Windel mit teils stockender Stimme eine schnelle Aufarbeitung aller Missbrauchsfälle bis in die Gegenwart und eine angemessene finanzielle Anerkennung des Leids.