Taliban dringen bis nach Kabul vor

Taliban dringen bis nach Kabul vor
Die Taliban stehen offenbar kurz davor, die Macht in Afghanistan zu übernehmen. Am Sonntag drangen die Islamisten bis an die Tore der Hauptstadt Kabul vor. Präsident Ghani hat Medienberichten zufolge das Land verlassen.

Dubai, Kabul (epd). Die Lage in Afghanistan spitzt sich immer weiter zu. Während die radikalislamischen Taliban am Sonntag bis nach Kabul vorrückten, herrschte in der Bevölkerung Panik. Präsident Aschraf Ghani soll angesichts der Situation Medienberichten zufolge das Land verlassen haben. In einer Erklärung versicherten die Taliban, ihre Kämpfer würden die Vier-Millionen-Metropole nicht mit Gewalt einnehmen und den Menschen eine Ausreise ermöglichen. Das Personal der deutschen Botschaft wurde zum militärischen Teil des Flughafens in Kabul verlegt, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) bei Twitter mitteilte. Am Sonntagnachmittag sollte nach seinen Angaben der Krisenstab der Bundesregierung zusammenkommen.

Innerhalb kürzester Zeit hatten die Taliban alle großen Städte unter ihre Kontrolle gebracht, oftmals ohne Gegenwehr. Derzeit seien Verhandlungen über einen friedlichen Machtwechsel im Gange, teilten die Aufständischen in den sozialen Netzwerken mit. Sie kontrollieren inzwischen fast alle der 34 Provinzen.

Das afghanische Präsidialamt rief die Einwohner zu Ruhe und Besonnenheit auf. Interimsinnenminister Abdul Sattar Mirzakwal sagte laut dem afghanischen TV-Sender Tolo, die Hauptstadt werde nicht angegriffen werden und eine Machtübergabe ohne Gewalt vonstatten gehen. Die Sicherheitskräfte würden die Sicherheit der Stadt gewährleisten. Gleichzeitig wurden in der Hauptstadt Regierungsgebäude geräumt.

Nach Angaben desselben Senders hat Ghani am Sonntag Afghanistan verlassen. Der 72-Jährige soll die Regierungsgeschäfte an den amtierenden Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi übergeben haben. Berichten zufolge sollen Ghani und das Kernteam aus Kabul nach Tadschikistan geflogen sein. Einen offiziellen Rücktritt Ghanis gab es nicht. Nach Berichten über dessen Ausreise sagte ein Taliban-Sprecher dem Sender, dass ihre Kämpfer den Auftrag erhalten hätten, Kabul zu betreten.

Mehrere Länder begannen mit der Evakuierung ihrer Botschaften oder bereiteten diese vor. Auch Deutschland will das Personal der diplomatischen Vertretung und andere Staatsbürgerinnen und -bürger schnellstmöglich ausfliegen. Maas zufolge sollte es am Sonntag auch um die Ausreise anderer gefährdeter Personen gehen. Angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan war die Kritik am Umgang mit den Ortskräften, die für die Bundeswehr im Einsatz waren, lauter geworden. Am Sonntag wandten sich zudem deutsche Medienhäuser, darunter „Die Zeit“, der „Spiegel“ und die Deutsche Welle in einem offenen Brief an die Bundesregierung, weil sie um das Leben ihrer afghanischen Kollegen und Kolleginnen fürchten, die beispielsweise als Übersetzer oder freie Mitarbeiter die Berichterstattung unterstützt haben. Sie forderten ein Visa-Notprogramm.

Die USA und die Nato hatten nach fast 20 Jahren im Mai mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan begonnen. Im Juni verließen die letzten deutschen Soldaten das Land. Seitdem brachten die Taliban zahlreiche Gebiete unter ihre Kontrolle, ohne dass die von den internationalen Truppen ausgebildete Armee sie abwehren konnte. Hunderttausende Familien waren in den vergangenen Tagen aus den eroberten Regionen nach Kabul geflohen. Die UN hatten die Nachbarländer Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtende zu öffnen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte angesichts der Lage, dass der Zweck des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan verfehlt wurde. Ziel sei es gewesen, die Lebensbedingungen für die Menschen zu verbessern und Stabilität in das Land zu bringen, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“ (Montag). „Heute muss man leider festhalten: Das ist gescheitert“, ergänzte er. Dennoch sei die Entscheidung dafür im Jahr 2001 richtig gewesen.

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), forderte unterdessen eine Verschiebung der für den 31. August geplanten Gedenkfeier zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. „Feierlichkeiten und ein würdiges Gedenken sind angesichts der dramatischen Entwicklungen und dem Vormarsch der Taliban derzeit nicht möglich und sollten verschoben werden“, sagte Högl der „Augsburger Allgemeinen“.