Die Heldin und der Totschläger?

Foto: dpa/Fredrik Von Erichsen
Die Cousine von Tugce nach der Urteilsverkündung
Die Heldin und der Totschläger?
Klischees belasteten den Prozess im Fall Tugce Albayrak
Es war ein Verbrechen, das Tausende aufwühlte: Eine hübsche, junge Frau hilft Mädchen, die belästigt werden, und wird darauf hin totgeschlagen. Der Prozess färbte das Schwarz-Weiß-Bild jedoch mit Zwischentönen ein.

Die Tat löste Entsetzen und Trauer aus: Am 15. November 2014 um vier Uhr morgens schlug der 18-jährige Hauptschulabgänger Sanel M. die Studentin Tugce Albayrak zu Boden. Besinnungslos stürzte die 22-Jährige auf den Asphalt vor einem Offenbacher Schnellrestaurant und fiel mit blutendem Kopf ins Koma. Als bekannt wurde, dass die aus Gelnhausen stammende Tugce zuvor zwei Mädchen vor dem jungen Mann beschützt haben soll, wurde sie rasch zur Ikone der Zivilcourage stilisiert.

Tausende nahmen vor dem Krankenhaus Abschied, als die Familie am 28. November zu Tugces 23. Geburtstag die lebenserhaltenden Maschinen abstellen ließ. "Heute sind wir alle Tugce", stand auf einem der Plakate. Zu Lebzeiten hatte Tugce bestimmt, dass ihre Organe gespendet werden sollen. Eine Petition, ihr posthum das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, wurde inzwischen von mehr als 300.000 Menschen unterzeichnet. Bundespräsident Joachim Gauck schrieb einen Beileidsbrief an die Familie.

Anteilnahme und Hass im Netz

Der Fall produzierte zahlreiche Schlagzeilen, eine Woge von Kommentaren schwappte in den Internet-Netzwerken auf, teilnahmsvolle und hasserfüllte. Die Zuschreibungen an Opfer und Täter und die daraus erwachsenen Erwartungen belasteten den Prozess, der am Dienstag zu Ende ging. Das Landgericht Darmstadt verurteilte Sanel M. wegen schwerer Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren.

Oberstaatsanwalt Alexander Homm hatte in seinem Schlussplädoyer von einer "Wucht" des öffentlichen Interesses gesprochen und das gezeichnete Schwarz-Weiß-Bild vom bösen Täter und edlen Opfer der Zivilcourage kritisiert. Die Verteidiger des Angeklagten beklagten eine "beispiellose Medienkampagne" gegen ihren Mandanten.

Die Anhörung der rund 60 Zeugen und Sachverständigen brachte indes Zwischentöne hervor, ohne die gegensätzliche Beurteilung der Protagonisten aufzulösen. Eine Gruppe junger Männer beleidigte und provozierte demnach eine Gruppe junger Frauen. Einige von diesen, darunter Tugce, ließen sich das nicht gefallen und warfen Schimpfwörter zurück. Die Auseinandersetzung schaukelte sich hoch bis zu dem verhängnisvollen Schlag. Der Täter war durch die Überwachungskameras und die Zeuginnen schnell ermittelt und gestand die Tat zu Beginn des Prozesses. Einige Schlüsselfragen der Unglücksnacht blieben allerdings offen.

Hatte Sanel M. Tugce Vergeltung angedroht, als er aus der Damentoilette vertrieben wurde, wo er mit zwei Freunden zwei minderjährige Mädchen angemacht hatte? Einige Zeuginnen berichteten davon, andere hatten nichts dergleichen bemerkt. Hatte der Verurteilte sich auf dem Parkplatz mit einem Freund verabredet, eine Frau zu schlagen, wie die Anwälte der Familie Albayrak ein Abklatschen der Hände unmittelbar vor der Tat deuten? Oder war Sanel M. durch Tugce provoziert worden, und sind ihm dabei "die Sicherungen durchgebrannt", wie einer seiner Verteidiger annimmt? Schließlich: Hatte der Täter die Folgen seines Schlags in Kauf genommen, oder konnte er sie nicht vorhersehen?

Bild vom wilden Schläger passt nicht mehr

Die Bedingungen für die Aufklärung waren nicht einfach. Der Vorsitzende Richter Jens Aßling befragte die Freundinnen Tugces genauso bohrend wie die Freunde des Täters. Doch die Zeugen widersprachen sich je nach Lager, auch in den Vernehmungen der Polizei unmittelbar nach der Tat. Viele offenbarten ein halbes Jahr später große Erinnerungslücken. Bei praktisch allen Aussagen stand das Gericht vor der Schwierigkeit, die eigene Erinnerung der Zeugen von dem Einfluss des veröffentlichten Überwachungsvideos und den Gesprächen mit anderen zu trennen. Der Angeklagte schwieg bis auf sein knappes Geständnis zu Beginn und wenige Sätze zum Schluss des Prozesses, dass der Schlag ihm leidtue.

Die Eltern und die zwei Brüder Tugces ersparten sich kein Detail und waren an jedem Verhandlungstag anwesend. Sie, die ihre Arbeit aufgegeben, Studium und Ausbildung unterbrochen haben, ertrugen die Vernehmungen tapfer. Mehrere Male standen der Mutter die Tränen in den Augen.

Oberstaatsanwalt Homm wandte sich zum Schluss gegen die Klischees: "Das Gericht hat nicht den Sockel des Opfers zerstört - es hat sich selbst nicht darauf gestellt. Das einseitige Bild vom wilden Schläger lässt sich nicht aufrechterhalten, aber das macht die Tat nicht besser."