Begabung: Ich sehe was, was du nicht siehst

Begabung: Ich sehe was, was du nicht siehst
Adolf Beutler spricht nur selten ein Wort. Der 75-jährige, preisgekrönte Künstler mit autistischen Zügen verbrachte über vierzig Jahre in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Niemand weiß warum. Ob seine Kunstwerke seine Lebensgeschichte erzählen – vielleicht.
01.03.2012
Von Kristin Oeing (Text) und Sascha Montag (Bilder)

"Weitermalen", wispert Adolf Beutler, "weitermalen". Die Finger seiner rechten Hand umschließen den blauen Buntstift fest. Er drückt ihn auf das Papier, malt einen Halbkreis, an dessen unteren Ende er rechtwinkelig einen Strich zieht. Immer wieder. Wie automatisch. Stunde um Stunde. Die Sonne scheint durch das Fenster und wandert langsam über seinen Rücken, während die Spitze des Stiftes feine Rillen auf dem Papier hinterlässt. Seine Augen huschen über das Blatt und suchen einen geeigneten Platz für den nächsten Halbkreis. Bedächtig setzt er den Stift auf das Papier. Halbkreis, Strich. Halbkreis, Strich.

Die Fenster im Atelier sind geöffnet, die Geräusche der vorbeifahrenden Autos werden von der Elektromusik aus dem CD-Player verschluckt. Es ist nicht leicht, die Kunstwerkstatt, die zu den Mosaik-Werkstätten für Behinderte gGmbH gehört, zu finden. Der einst als Kaserne erbaute, unscheinbare Backsteinbau im Berliner Bezirk Spandau, verrät nichts über die berühmten Kunstwerke, die in ihm aufbewahrt werden. Eine vierspurige Straße führt an dem Gebäude vorbei, Fußgänger sieht man hier nur selten. In Gegensatz zu den pulsierenden Künstlervierteln der Hauptstadt wirkt hier alles trostlos, grau, wenig inspirierend. Der ausladende Bau schweigt.

Kunterbunte Künstlerwelt

Erst mit der Eingangstür öffnet sich das Tor zu einer bunten, lauten Welt. Die Stimmen der rund 260 Menschen mit geistiger Behinderung, die hier in den verschiedenen Werkstätten arbeiten, schallen durch die Flure. Die zehn fest angestellten Künstler sind im zweiten Stock des Baus untergebracht. In drei kleinen Räumen drängen sich Tische, Stühle und Staffeleien aneinander. In Holzregalen aufgetürmt, stehen dicht an dicht prämierte und noch unentdeckte Kunstwerke.

Adolf Beutler sitzt in der Ecke des ersten Raumes. Zwei Staffeleien rahmen seinen Arbeitsplatz ein, auch sie sind mit bunten Strichen übersäht. Seine Kunst kennt keine Grenzen. Auf dem blauen Linoleumboden leuchten gelbe Farbkleckse, doch die sind nicht von ihm. Der 75-jährige Künstler arbeitet nur mit Kugelschreibern, Finelinern, Bunt- und Bleistiften. "Einmal habe ich ihm einen Pinsel in die Hand gedrückt und Aquarellfarben hingestellt – wie ich auf die Idee kommen konnte, frage ich mich noch heute", sagt Nina Pfannenstiel, künstlerische Leiterin der Kunstwerkstatt Mosaik Berlin und wirft dem kleinen Mann mit dem vollen grauen Haar einen liebevollen Blick zu.

Adolf Beutler sitzt auf seinem mit grünem Stoff bezogenen Stuhl, seine Oberkörper vorne übergebeugt, die Ellenbogen auf dem Holzfläche aufgestützt. Vor ihm liegen eine Vielzahl noch nicht vollendeter Bilder, bemalter Holzklötze und ein Kasten mit Buntstiften. Der Kasten ist, wie alles andere auch, mit Strichen in unterschiedlichen Farben übersäht. Als wäre alles Teil eines Kunstwerkes. Ein Mosaik.

Geduld und Farbe

Die Farben violett und blau dominieren seine Bilder. "Blau", sagt Adolf Beutler, hebt einen Holzklotz hoch und zeigt auf ein Netzwerk von blauen Linien, "blau". Er dreht den Klotz in der Hand, begutachtet ihn von allen Seiten. Plötzlich hält er inne, verharrt zwei Sekunden und malt einen weiteren Strich auf das raue Holz. Dann legt er den Klotz zurück. Er verschiebt ihn einen Zentimeter, bis er exakt an seinem alten Platz liegt, rechtwinklig zu den anderen Gegenständen auf dem Tisch. Alles hat seinen Platz. Nichts darf die Beutlerische Welt durcheinander bringen. "Alle zwei Monate arrangiert Adolf seine Arbeiten neu", erklärt Nina Pfannenstiel, "bis ein Werk fertig ist, dauert es Monate manchmal Jahre".

Bild links: Nina Pfannenstiel, künstlerische Leiterin der Kunstwerkstatt Mosaik Berlin und Adolf Beutler. Foto: Sascha Montag/Zeitenspiegel

Das älteste, noch existierende Bild des Künstlers ist aus dem Jahr 1996. Bilder aus der Zeit davor, gibt es nicht mehr. Ob er als Kind schon malte, niemand weiß das. Und Adolf Beutler schweigt. Der Berliner wurde 1935 geboren, überlebte trotz Euthanasie den Nationalsozialismus und wurde im Alter von zwölf Jahren in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eingeliefert, in der er die nächsten 42 Jahre als geistig Behinderter auf einer gesonderten Station unter psychisch kranken Menschen lebte.

Erst im Zuge der Enthospitalisierungsbewegung wurde diese Station Ende der 80er Jahre aufgelöst und Adolf Beutler durfte in eine betreute Wohngemeinschaft ziehen. Als er die Anstalt verließ wurden in seiner Schublade einige Zeichnungen gefunden. Wo die sich heute befinden, ob sie überhaupt aufbewahrt wurden, weiß niemand. Auch über seine Familie ist nichts bekannt. Gerüchte besagen, er habe zwölf Geschwister, bestätigt wird das nirgends.

Einfach malen wollen

Seit 1989 arbeitet Adolf Beutler in den Mosaik-Werkstätten, zunächst in der Industriemontage. Doch er verstand nicht oder wollte nicht das tun, was man ihm auftrug. Viel lieber malte er. Er nahm sich Papierschnitzel und zeichnete Striche darauf. Muster. Kleine Kunstwerke. Die Betreuer ließen ihn gewähren. "Eines Tages, im Jahr 1996, stand er dann bei uns im Atelier", erinnert sich Nina Pfannenstiel, fährt sich unwirsch durch das kurze braune Haar, in dem bereits graue Haare durchschimmern und lacht, "hier gab es Kaffee und den liebt Adolf". Obwohl er es nicht durfte, schlich sich der gut aussehende, ältere Mann immer wieder nach oben. "Sie haben versucht, ihn unten festzuhalten", erinnert sich die 44-jährige Diplom-Kulturpädagogin, "aber er war hartnäckig, wollte raus aus dem Ghetto der Werkstätten. Und dann malte er und hörte nicht mehr auf."

Auf Papier, Pappe, Holzblöcken oder auch den Arbeitstischen verewigte Adolf Beutler seine Kunst. Nina Pfannenstiel war begeistert. "Menschen mit geistiger Behinderung sind frei in ihrem Denken, kennen keine Grenzen oder Normen, versuchen keiner Kunst nachzueifern, sondern die Kunst kommt aus ihnen selbst." Ein Bild beginnt er meist mit buchstabenartigen Zeichen, die er dann mit einem farbigen Netz aus Buntstiftstrichen überzieht. Die Linien kreuzen einander. Es entstehen Gitterflächen, Spinnenetze, mal ganz dicht, dann lässt er wieder mehr Raum. Ein Labyrinth an möglichen Wegen, den man folgen kann, wie Schaltpläne. Es erinnert an den Blick aus einem Flugzeug. Gleichsam nah und doch fern.

Künstler in Rente

Das Faszinierende an seinen Bildern entdeckten auch die Juroren des 1. Europäischen Kunstpreises Malerei und Grafik von Künstlern mit geistiger Behinderung. Im Jahr 2000 reichte Nina Pfannenstiel Adolfs Bilder im letzten Moment bei dem Wettbewerb ein. Seitdem ist er Preisträger des EUWARD 2000. "Ein Wendepunkt", erinnert sich seine Mentorin. Die Beutlerische Kunst wurde nun auch von den Leitern der Werkstätten anerkannt. Adolf durfte bleiben, arbeitete jeden Tag in der Kunstwerkstatt. Bis er 68 Jahre alt war und in Rente gehen musste. Einen Anspruch darauf, täglich zu der Werkstatt gefahren zu werden, hat er seitdem nicht mehr.

"Zunächst sind die Betreuer eingesprungen und haben ihn mit ihren privaten Autos in die Werkstatt gefahren", erinnert sich Nina Pfannenstiel, mittlerweile machen die Behörden für Adolf Beutler eine Ausnahme. Immer donnerstags. "Gerne wäre er öfter hier", weiß die künstlerische Leiterin, "aber das ist nicht möglich". Die Betreuer im Heim gaben ihm Zettel und Stifte, wollten ihn motivieren zu Hause weiter zu malen, "aber der Adolf ist ein Künstler und wie jeder Künstler braucht er sein Atelier als Inspiration".

Die Akzeptanz der Kunst von Menschen mit Behinderungen ist gering, auch wenn der Kunstmarkt für Außenseiter-Kunst durchlässiger wird. Sätze wie, "das kann mein Kind doch auch" bringen Nina Pfannenstiels regelmäßig auf die Palme. "Und ich höre ihn viel zu häufig", sagt sie. Gerade erst wurde die Kunstwerkstatt verkleinert. "Wir überlegen schon länger in ein anderes Gebäude umzuziehen, in dem mehrere Künstler arbeiten und wo der Inklusionsgedanke und Künstleraustausch stärker gelebt werden kann", sagt die Kulturpädagogin, "deshalb standen unsere Räume ganz oben auf der Liste, als für die Werkstätten mehr Platz benötigt wurde".

Sich den Regeln am Kunstmarkt widersetzen

Sie presst die Lippen aufeinander, "in der Industriemontage wird das Geld eingefahren – ohne sie, würde es uns nicht geben". Seine Daseinsberechtigung verdankt das Atelier Künstlern wie Adolf Beutler. Regelmäßig wird er zu Ausstellungen eingeladen, auch über Deutschlands Grenzen hinaus ist sein Name bekannt. "Viele Galeristen zeigen Interesse an seiner Kunst, aber Adolf kann nicht schnell genug produzieren", erklärt seine Betreuerin, "er hat keinen Druck, kennt keinen Ehrgeiz. Damit entzieht er sich dem Kunstmarkt". Und so bleibt die Kunstwerkstatt Luxus und die hohe Wand über Adolfs Arbeitsplatz bis auf fünf Bilder in DIN-A-4 Größe leer. Über Zwanzig Nägel warten noch auf ihr Bild.

Bild links: Adolf Beutler in seiner Kunstwerkstatt. Foto: Sascha Montag/Zeitenspiegel

Adolf Beutler lässt sich von diesem Gedanken nicht stressen. Stundenlang sitzt er vor dem Schreibtisch, verändert seine Pose nur selten und steht nur für die Mittags- und Kaffeepausen auf, manchmal nicht mal dafür. Zwischendurch wischt er sich mit dem Zeigefinder über die bunte Farbe auf den Handballen, die von seinen Kunstwerken abgefärbt ist. Er lächelt. Dann malt er weiter.

"Adolf hat ein unglaublich nettes Wesen", sagt Nina Pfannenstiel, "früher hat er uns oft Blumen mitgebracht". Adolf Beutler mag Blumen. Auch bei seiner ersten Ausstellung auf der EXPO 2000 in Hannover hat er Blumen verteilt und den Besuchern ein Lächeln geschenkt. "Wie er da so stand in seinem Anzug, zwischen den Industriebossen, er sah aus, als würde er zu ihnen gehören", erinnert sich Pfannenstiel. Adolf Beutler blickt derweil auf eine Leinwand, auf der die Striche ein Eigenleben entwickelt haben, sich zu bewegen scheinen. "Manchmal sagt er, es seien Zäune", sagt die 44-Jährige und rollt die Augen, "da kann man jetzt was reininterpretieren - oder es lassen". Adolf Beutlers Vergangenheit bleibt schwarz.

Kunst gibt es nur einmal pro Woche

Die Betreuerin blickt auf ihren Schützling, der seit sieben Stunden an seinem Platz sitzt. "Ist es vielleicht fertig?", fragt sie den alten Mann. "Nein", sagt er leise. Solange Adolf Beutler ein Bild nicht für beendet erklärt, nimmt es Nina Pfannenstiel nicht weg. "Er entscheidet, wenn es fertig ist. Niemand anderes", sagt sie. Die Augen des Künstlers starren unverändert auf das Bild. "Blumen", flüstert er.

Um 14.45 Uhr hat Adolf Beutler Feierabend. Ein Bus bringt ihn nach Hause. Vor zwei Jahren zog er in ein betreutes Wohnheim in dem Berliner Bezirk Reinickendorf. Hier teilen viele Zimmernachbarn das Schicksal des 75-Jährigen, sie verbrachten ebenfalls lange Jahre ihres Lebens in psychiatrischen Kliniken. In dem mit PVC-Boden ausgelegtem Zimmer des Künstlers hängen drei seiner Bilder, durch Glasscheiben geschützt. Kinderfotos? Fehlanzeige. Das älteste Foto mag einige Jahre alt sein.

Adolf Beutler geht schweren Schrittes zu seinem Sessel und lässt sich schnaufend in ihn fallen. Allerlei Kitsch und Krimskrams steht in seinem Zimmer herum. Kurz nimmt er den singenden Plastikfisch in die Hand, stellt ihn wenige Sekunden später wieder an seinen Platz zurück und schaltet den Fernseher ein. Die nächsten sechs Tage wird er nicht zeichnen. Erst am siebten Tag wird der Bus wieder vor der Tür warten. Und ihn in seine Welt bringen.


Kristin Oeing ist freie Journalistin in Berlin und Trägerin des Bathildisheimer Journalistenpreises.

Sascha Montag arbeitete als Fotograf für dpa und anschließend für die Agentur Zeitenspiegel.