Gewalt und Folter im Namen des Bösen

Gewalt und Folter im Namen des Bösen
Sie foltern und drohen, um ihre Mitglieder zu Gehorsam und Schweigen zu zwingen. Opfer ritueller Gewalt überleben nur durch eine Persönlichkeitsspaltung. Die Evangelische Traumaklinik in Bielefeld zählt zu den führenden Einrichtungen für die Behandlung solcher Fälle.
26.08.2010
Von Holger Spierig

Wenn sich die 48-jährige Frau an ihre Kindheit erinnert, denkt sie an gespenstische Rituale, an Elektroschocks und erzwungenen Sex. "Ich bin in einen Satanskult hineingeboren worden", erzählt die Frau, die sich Nicki nennt. Sie sei nicht nur bei "schwarzen Messen" auf Friedhöfen oder in Kellern missbraucht worden. Ihre Mutter und ihr Stiefvater, die zu dem Satanskult gehörten, hätten sie auch an andere Kultmitglieder "vermietet". Mit Folter und Drohungen sei sie zu Gehorsam und Schweigen gezwungen worden. "Man wurde auch lebendig begraben, um zu zeigen, was passiert, wenn man aussteigt."

Die im Kreis Gütersloh aufgewachsene Frau gehört zu den wenigen Opfern, die ihre Peiniger anzeigten. Der Stiefvater kam daraufhin 1975 für eineinhalb Jahre ins Gefängnis, da war sie 14 Jahre alt. Verurteilt wurde er wegen sexuellen Missbrauchs. Ihre Aussagen über den Satanskult hätten vor Gericht keine Rolle gespielt, beklagt Nicki. Überlebt hat sie ihre Schreckenszeit in verschiedenen Persönlichkeiten. "Es gab in mir eine Person, die als Kind ganz normal in die Schule ging, und eine andere Person in einem Satanskult", berichtet sie.

Die Bielefelder Traumaspezialistin Roswitha Ewald kennt ähnliche Schilderungen von ihren eigenen Patienten. Sie arbeitet in der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin des Evangelischen Krankenhauses in Bielefeld. Ritueller Missbrauch spiele bei fünf bis zehn Prozent der insgesamt rund 400 Patienten im Jahr eine Rolle.

Schutz durch Persönlichkeitsspaltung

Als rituelle Gewalt werden sexuelle, physische und emotionale Misshandlungen bezeichnet, die mit vermeintlich magischen oder religiösen Handlungen verbunden sind. Ziel der Täter sei die absolute Macht und Kontrolle über die Individualität und Freiheit des Opfers, erläutert die Ärztin. Das Bielefelder Krankenhaus ist eine der bundesweit führenden Einrichtungen für die Behandlung solcher Fälle. Wenn Kinder missbraucht und gequält werden, können sie als Schutzmechanismus wie Nicki verschiedene Bewusstseinszustände entwickeln, erläutert Ewald. Früher sprach man auch von "multipler Persönlichkeit".

Ziel der Therapie ist es, die zersplitterten Persönlichkeitsanteile wieder zusammenzuführen. Ein Erfolg ist es schon, wenn die Patienten wieder für ein normales Leben stabilisiert werden können. Gegen Panikattacken packt die Ärztin mit ihren Patienten einen "Notfallkoffer": Aromatische Öle oder ein Bild der Tochter können in der aufkommenden Panik ein Anker zur Realität sein. Die Therapie wird jedoch stark gefährdet, wenn Opfer und Täter noch in Kontakt stehen. Viele seien mit den kultischen Kreisen so eng verwoben, dass sie kein Leben mehr außerhalb dieses Umfelds kennen, erläutert Ewald. "Sie erfahren dort ja nicht nur Qualen, sondern auch Zugehörigkeit und Selbstwert".

Wie gefährlich sind Satanskulte?

Wer sich von einer solchen Kultgruppe lossagen will, schwebt nach Auffassung der katholischen Sektenbeauftragten Brigitte Hahn in Lebensgefahr. Oft würden die Kulte versuchen, mit allen Mitteln ihre Opfer zurückzuholen, berichtet die Sektenbeauftragte des Bistums Münster. Sie begleitet Frauen, die aus einem Satanskult aussteigen wollen. Die wirklich bedrohlichen Satanskulte operierten im Geheimen, warnt auch die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt.

Wie gefährlich Satanskulte tatsächlich sind, darüber gehen die Einschätzungen bei Polizei, Sektenexperten und Psychotherapeuten weit auseinander. Viele Therapeuten verweisen auf die Berichte ihrer Patienten. Da wird von Ekeltraining erzählt oder von verborgenen Frühabtreibungen, die für Menschenopfer benutzt würden. Nach Angaben der Polizei konnten jedoch bislang kaum Straftaten im Zusammenhang mit Satanskulten nachgewiesen werden. In der Polizeistatistik werden Verbrechen mit einem rituellen Hintergrund allerdings nicht gesondert erfasst.

Der Okkultismus-Experte der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin, Matthias Pöhlmann, plädiert denn auch dafür, weder zu dramatisieren noch zu bagatellisieren. Dass Satanisten dabei wären, die Gesellschaft zu unterwandern, hält er für "Verschwörungstheorien". Die Erfahrungen der Opfer müssten jedoch ernst genommen werden.

"Das größte Problem ist, dass einem niemand glaubt"

Erinnerungen könnten sich nach starken Gewalterlebnissen allerdings auch verändern, ohne dass es den Opfern bewusst sei, sagt Pöhlmann. "Manche kleiden ihre Gewalterfahrungen in Satanismus-Muster, um zum Ausdruck zu bringen, welch tiefen Schmerz sie erlebt haben."

Nicki haben mehrere Therapien und auch die Pflegefamilie, in der sie später aufwuchs, geholfen. Heute will sie mit einem von ihr gegründeten Selbsthilfeverein und ihrer Internetseite anderen Opfern Mut machen. Wichtig sei es, sich mit Menschen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen haben. "Das größte Problem ist ja, dass einem niemand glaubt", sagt sie.

epd