Auf der Sehnsucht Seil

Feiertag

Quelle: epd-bild/akg-images. Nelly Sachs (1891-1970), Foto ca. 1965.

Auf der Sehnsucht Seil
Zum 50. Todestag von Nelly Sachs
10.05.2020 - 07:05
07.05.2020
Angelika Obert
Über die Sendung:

Es ist nicht leicht, den visionären Sprachbildern der Dichterin Nelly Sachs zu folgen. Ihre Gedichte wollen wohl auch wie Musik sein, es muss nicht alles verstanden werden. Aber es gibt einzelne Zeilen, die leuchten wie Diamanten und bleiben unvergesslich.  

Sie selbst hat gezweifelt, ob fremde Ohren ihre Gedichte verstehen könnten: „da es ja eigentlich nur noch schweigendes Seufzen ist“.

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Als sie am Ende ihres Lebens endlich entdeckt wurde, in den Jahren nach 1960, hat man Nelly Sachs unter die Großen der deutschen Dichtung gezählt. Ein Geschenk sei ihr Werk, vor dem sich auch spätere Generationen würden verantworten müssen, schrieb Walter Jens damals. Aber nun ist es doch still um sie geworden. Keine Neuauflage ihrer Gedichte erscheint zum 50. Todestag. An Beethoven und Hölderlin wird in diesem Jahr gedacht, auch an Paul Celan, aber kaum an Nelly Sachs. Was ist so fremd an ihr, dass sie in Vergessenheit geriet? Die Intensität, mit der sie dem Schmerz Ausdruck gab? Oder ihre verzweifelte Sehnsucht nach einer Erlösung, die sie ohne Todesschmerz nicht denken konnte? Ihre kühnen Sprachbilder, die immer nach dem Unsagbaren tasten? Sie selbst hat gezweifelt, ob fremde Ohren ihre Gedichte verstehen könnten: „da es ja eigentlich nur noch schweigendes Seufzen ist“, schrieb sie an einen Freund und erklärte dazu: „Man horcht so weit hinaus, wenn man seine verlorene Liebe sucht.“ Ja, sie hat sehr weit hinausgehorcht, über den Tod hinaus, war sie doch selbst eine Überlebende, der Ermordung nur knapp entronnen und wusste von ihren Nächsten, die nicht entronnen waren. In die Himmel hat sie hinausgehorcht, weil die Erde zum Ort des Grauens geworden war. Und die Bilder, die sie dafür fand, erschließen sich nicht leicht. Auch ich habe ihre Gedichtzyklen selten zu Ende gelesen, ihre Bücher nur ehrfürchtig im Schrank gehabt. Aber es waren doch einzelne Zeilen, die mir stets gegenwärtig blieben: ‚Oh ihr Schornsteine auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes…‘, ‚Ihr Zuschauenden, unter deren Blicken getötet wurde…‘ Dann aber auch: ‚Frieden, du leiseste aller Geburten...‘, und ‚Anstelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt‘. Einzelne Zeilen, die mir seit vielen Jahren in meine eigene Spracharmut hineinleuchten. Darum will ich an Nelly Sachs erinnern.                                                                      

 

 

Wir Geretteten

Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt (.)

Unsere Leiber klagen noch nach

Mit ihrer verstümmelten Musik.

Wir Geretteten,

Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht

Vor uns in der blauen Luft

Wir Geretteten

Immer noch essen an uns die Würmer der Angst…(1)

 

Gerettet wurde Nelly Sachs buchstäblich in letzter Minute, als sie den Gestellungsbefehl in ein Arbeitslager schon in der Hand hatte. Im Mai 1940 kam sie mit ihrer Mutter in Schweden an. Beide waren sie nicht mehr jung, tief verstört von den Schreckensjahren, die hinter ihnen lagen, ohne jeden Besitz. Eine für Flüchtlinge bestimmte Wohnküche wurde ihnen zugewiesen. Dort hat Nelly Sachs zehn Jahre lang hingebungsvoll ihre kranke Mutter gepflegt. Dort hat sie bis zu ihrem Lebensende ihr dichterisches Werk vollbracht. Zwischen Küchenschrank und Waschbecken hat sie weit hinausgehorcht dahin, wo vielleicht Himmel und Erde wieder zusammenfinden könnten. Sie musste schreiben, Sprache finden, sonst hätte sie mit dem Grauen nicht leben können. Schreiben, um zu überleben, hatte sie allerdings schon viel früher gelernt. Da war sie noch ein ganz junges Mädchen in großbürgerlichem Elternhaus. Als sehr zartes, hochsensibles Kind ist sie allzu beschützt, allzu einsam aufgewachsen und dann im Alter von 16 Jahren einem Mann begegnet, der ihre leidenschaftliche Liebe weckte. Die Verbindung brach ab, das junge Mädchen hörte auf zu essen. Ein kluger Arzt verstand: Diese feinnervige, junge Frau war dabei, an der Liebe zugrunde gehen. Er riet ihr zu schreiben. Und das brachte sie ins Leben zurück. Sie schrieb Legenden und Sonette, inspiriert von der deutschen Romantik. Sie hatte damit auch erste Erfolge, hat ihre frühe Dichtung aber später nicht mehr als gültig betrachtet. Das Werk, an dem ihr lag, den Toten eine Stimme zu geben und Versöhnung zu beschwören, begann erst in der Wohnküche im schwedischen Exil. Da war sie bereits 50 Jahre alt.

Eine Überlebende zu sein – was konnte das anderes bedeuten, als um die Toten zu trauern und ihnen Ehre zu geben? „Grabinschriften in die Luft geschrieben. Meinen toten Brüdern und Schwestern“ ist einer der ersten Gedichtzyklen, die im Exil entstehen.

Sie, die sich zuvor selbstverständlich als deutsche Lyrikerin verstanden hat, identifiziert sich nun tief mit Israel. Die leidenden und ermordeten Juden sind „ihr Volk“ und sie weiß: Sie sind die Erben einer Gottessehnsucht, die mit Abraham begann. Gottes Volk bleiben sie auch in Auschwitz:

 

O die Schornsteine

auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes

Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch

durch die Luft…

O die Schonsteine!

Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub -

Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein

Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch? (2)                                

 

Ein großes Klagelied singt sie, kein Lied der Anklage. Nicht Wut treibt sie, sondern Fassungslosigkeit angesichts des entfesselten Bösen. Und wie der biblische Hiob lässt sie nicht ab, nach dem Licht Gottes zu fragen – auch für die Ermordeten: „Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird, so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen…“ Das Wort aus dem Buch Hiob steht über ihrem Gedicht.

Es erreicht sie auch die Nachricht von der Ermordung des geliebten Mannes. Eine brennende Trauer um ihn wird sie nicht mehr loslassen und ihr Denken prägen: Wenn der Geliebte für immer unerreichbar jenseits ist, was kann die Liebe dann anderes sein als Sehnsucht nach dem unerreichbar Jenseitigen?                                                    

 

Wenn ich nur wüsste

Worauf dein letzter Blick ruhte.

War es ein Stein, der schon viele letzte Blicke

getrunken hatte, bis sie in Blindheit

auf den Blinden fielen?

 

Oder war es Erde,

Genug, um einen Schuh zu füllen,

Und schon schwarz geworden

Von soviel Abschied

Und von soviel Tod bereiten? (3)

 

Bis in ihre letzten Gedichte hinein bleibt der verlorene Geliebte gegenwärtig, ohne dass sie je seinen Namen preisgibt. Aber in ihren Briefen kommt Nelly Sachs immer wieder darauf zurück, dass es ihr persönliches Schmerzensschicksal war, aus dem ihre Dichtung entstand. Eine programmatische Dichterin will sie nicht sein, auch nicht für den neu entstehenden Staat Israel, so sehr sie sich freut, dass es diese Heimkehr für ihr Volk gibt. Israel – so wünscht sie es sich allzu idealistisch, soll gerade um seines Leidens willen vor allem Volk Gottes sein, Vorbild der Gottessehnsucht für alle Menschen. Ihr eigener Schmerz lässt sie mitfühlen mit jedem wehrlosen Opfer. So richtet sich ihre Klage in den Jahren nach der Shoah auch gegen die unsägliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden in aller Welt.                                                                         

Ein Faustschlag hinter der Hecke

Da liegt einer

Nichts Schlimmeres als Vorübergehen

Keiner bleibt stehn

Nichts zu sagen

Der Jasmin hat nicht seinen Duft gewechselt (4)

 

 

Wie beginnt das Böse? Nelly Sachs wusste es nur zu gut. Es beginnt mit der Sprache des Hasses, des Hohns und der Verwerfung. Die böse Sprache hatte sie in den Jahren des Nationalsozialismus erlitten. Wie einen Würgegriff hatte sie die Worte eines Gestapo-Beamten erlebt, nach denen sie tagelang nicht mehr sprechen konnte. Nelly Sachs ist nicht nur Dichterin, weil sie anders nicht weiterleben kann. Sie muss auch dichten, um die in maßlosem Unrecht verrenkte Sprache zu heilen. Mit der geschändeten Sprache steht für sie die Menschlichkeit überhaupt auf dem Spiel, denn die Sprache ist ja wie der Atem das Medium des Lebens.                                          

 

Völker der Erde,

zerstöret nicht das Weltall der Worte,

zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses

den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

 

Völker der Erde,

O dass nicht einer Tod meine, wenn er Leben sagt –

und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht –

 

Völker der Erde,

lasset die Worte an ihrer Quelle,

denn sie sind es, die die Horizonte

in die wahren Himmel rücken können

und mit ihrer abgewandten Seite (..)

die Sterne gebären helfen. (5)

 

Noch mitten im Krieg richtet sie ihren immer gültigen und wohl immer vergeblichen Appell an die Völker der Erde. Dabei ahnt sie es wohl: Sie werden nicht herausfinden aus dem „unendlichen Gerede hinter dornverschlossenem Mund“, wie sie es dann später einmal sagt. Sie selbst aber will der verkehrten Sprache eine ganz andere Weltdeutung entgegensetzen und macht es sich zur Aufgabe, diese Worte zu finden, die „Sterne gebären helfen“. Das sind für sie Kräfte des himmlischen Lichts.

Schon als junge Frau hat sich Nelly Sachs in der Mystik zu Hause gefühlt, hat Novalis, Jakob Böhme und Meister Eckart gelesen. Im Exil ist es dann die jüdische Mystik, in der sie ihre eigene Himmelssehnsucht wiederfindet. Die Beschäftigung mit den chassidischen Erzählungen von Martin Buber und mit der jüdischen Kabbala bestätigt sie in ihrem Glauben an die Wirkmacht des Worts. Die Schöpfung ist für sie Heilige Schrift: In jedem Wesen, auch in jedem Ding verbirgt sich ein Funke von Gottes Herrlichkeit, wenn auch gefangen und verborgen. Aufgabe der Dichterin ist es, eine Sprache zu finden, die jenseits von religiöser Dogmatik durchlässig ist für das Geheimnis des Göttlichen.                                                          

 

Wo nur finden die Worte

die Erhellten vom Erstlingsmeer

die Augen-aufschlagenden

die nicht mit Zungen verwundeten

(...)

die Worte

die ein zum Schweigen gesteuertes Weltall

mitzieht in deine Frühlinge -         (6)    

 

Menschlich kann die Welt für Nelly Sachs nur werden, wenn sie vom Göttlichen weiß. Darum sucht sie den hohen Ton, der den geschlossenen Kreis des Irdischen durchbrechen soll, die Sprache einer Sehnsucht, die Erlösung für alle Geschöpfe will.    

 

 

Ausdruck finden für das Geheimnis des Göttlichen in der Welt: Nelly Sachs glaubte, besser noch als im Gedicht könne das auf der Bühne gelingen, wenn dort Wort, Tanz und Musik zusammenwirkten. Ursprünglich hatte sie ja einmal Tänzerin werden wollen. So hoffte sie auf das Theater. Lange Jahre hat sie an Dramen gearbeitet zu großen biblischen Themen. Aber ihrer religiösen Leidenschaft sahen sich die Regisseure nicht gewachsen. Nur ihr Mysterienspiel Eli kam in Stockholm als Oper zur Aufführung – ganz anders allerdings, als Nelly Sachs es beabsichtigt hatte. Für sie sollte es in Eli um einen der 36 Gerechten gehen, die in der jüdischen Legende die Welt zusammenhalten, einen Gottesknecht, der stellvertretend für die andern das Leid trägt. Aber in der Oper wurde daraus ein Gerechter, der die Mörder anklagt und Sühne fordert. Nelly Sachs fühlte sich verraten, sie erlitt einen Zusammenbruch. Das Böse konnte für sie nur mit Hingabe und Opferbereitschaft überwunden werden. So war ihr auch der gekreuzigte Christus nah. In ihm sah sie den Größten unter den Propheten Israels. Und sah das leidende Israel an seiner Seite:     

 

Leget auf den Acker die Waffen der Rache

Damit sie leise werden

Denn auch Eisen und Korn sind Geschwister

Im Schoß der Erde (7)        

 

Das schrieb sie schon 1943 in ihren Auschwitzgedichten. Auch Eisen und Korn sind Geschwister wie Dunkel und Licht, Sterben und Leben. In der mystischen Erfahrung der Dichterin durfte nichts getrennt gedacht werden, nicht einmal Henker und Opfer. Das Böse mit Gutem zu überwinden, konnte nur bedeuten, auf die Anklage zu verzichten und selbst bei den Mördern das Menschliche zu suchen:                                                                                     

 

Was tatet ihr,

als ihr die Hände von kleinen Kindern waret?

Hieltet ihr eine Mundharmonika, die Mähne

Eines Schaukelpferdes, fasstet der Mutter Rock im Dunkel,

Zeigtet auf ein Wort im Kinderlesebuch -

War es Gott vielleicht, oder Mensch? (8)

 

Sie fragt die Täter: Habt nicht auch ihr einmal so lebensoffen angefangen wie alle Menschenkinder? Und diese Frage lässt die Unfasslichkeit des Bösen tiefer spüren als jede Anklage. Doch ihr Versöhnungswille war manchen ihrer jüdischen Freunde unbegreiflich. Und es mag sein, dass sie es den Nachgeborenen in Deutschland damit ein bisschen zu leicht machte. Dankbar war sie, als man sie zu Beginn der 60er Jahre in Deutschland endlich entdeckte, als junge deutsche Autoren ihre Nähe suchten, die ersten Preise kamen. Sie wollte ja eine deutsche Dichterin sein. Aber die Wiederbegegnung mit Deutschland zehrte auch übermäßig an den Kräften der zerbrechlichen 70jährigen. Die Verfolgungsangst kehrte zurück, hörte nicht mehr auf, sie zu peinigen. Lange Monate musste sie im Krankenhaus verbringen, außerstande, auch nur die nächsten Freunde zu empfangen. Dankbar war sie wohl auch, als sie am 12. Mai 1970 endlich aufhören durfte, die Qual zu ertragen.                                                             

 

 

Es ist nicht leicht, den visionären Sprachbildern der Nelly Sachs zu folgen. Ihre Gedichte wollen wohl auch wie Musik sein, es muss nicht alles verstanden werden. Aber es gibt es einzelne Zeilen, so habe ich anfangs gesagt, die leuchten wie Diamanten und bleiben unvergesslich. Eine einzelne Zeile von Nelly Sachs ist es auch, die sich im Internet auf erstaunliche Weise selbstständig gemacht hat: „Alles beginnt mit der Sehnsucht.“ Auf verschiedenen Seiten im Netz findet sich ein Gedicht, Nelly Sachs zugeschrieben, das mit dieser Zeile beginnt. Es spricht davon, dass im Herzen immer noch Raum für mehr ist, für Größeres und Schöneres, Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe, auch Sehnsucht nach Gott. Es ist ein schöner Text – nur, Nelly Sachs hätte ihn so nie geschrieben. „Alles beginnt mit der Sehnsucht“, heißt es in ihrem Mysterienspiel Eli und der Schumacher Michael, der das sagt, zeigt dabei auf ein paar Erdkrumen in einem Blumentopf und auf das Leder seiner Schuhe. Sehnsucht, das ist für die Mystikerin Nelly Sachs eine Kraft, die dem ganzen Kosmos innewohnt und auch dem kleinsten Ding unter der Sonne. Weit hinaushorchen musste sie, die ihre verlorenen Liebsten suchte, über die Todesverfallenheit der Welt hinaus. Nach Verwandlung sehnte sie sich für die ganze Schöpfung und dieses Sehnen machte sie hellhörig für das Seufzen der Kreatur. Für sie gehört alles Seiende zusammen, will jedes Ding geliebt und gehütet sein. Nicht auf Erfüllung des eigenen Lebens ist ihre Sehnsucht gerichtet, sie lenkt den Blick vielmehr auf den großen Zusammenhang des Lebendigen.                                                           

Wohin, o wohin

du Weltall der Sehnsucht

das in der Raupe schon dunkel verzaubert

die Flügel spannt

mit den Flossen der Fische immer den Anfang beschreibt

in Wassertiefen…(9)

 

Unendlich aufmerksam war sie für Raupe und Fisch und auch für den Stein, der „seinen Staub tanzend in Musik verwandelt“ – eine zärtliche Liebhaberin der Natur. Und sie hatte die Hoffnung,

dass auch andere das Hinaushorchen um der Sehnsucht willen wieder lernen könnten, das Lauschen am Ohr der Erde, wie sie es dann auch nannte:                                

 

Auch auf dem Markte (...)

Tat manch einer schnell einen Sprung

Auf der Sehnsucht Seil,

Weil er etwas hörte,

Aus dem Staube heraus tat er den Sprung

Und sättigte sein Ohr. (10)

 

Auch mitten im Getriebe des Alltags gibt es doch eine Ahnung vom Atem, der alles verbindet. So hoffte sie. Ob es wirklich so ist, dessen können wir uns heute so gewiss gar nicht mehr sein. Die Schöpfung ist bedroht von der Gewalt, die ihr durch menschlichen Mutwillen angetan wird. Still geworden ist es um die Dichterin, für die Fisch und Pflanze, Stein und Raupe nicht weniger heilig waren als das Menschenleben. Die wie keine andere den Schmerz der Geflüchteten zur Sprache brachte, die der Sprache der Gewalt beschwörend entgegentrat. Um der einzelnen Zeilen willen wollte ich an Nelly Sachs erinnern und habe dabei entdeckt: Ihre Themen sind die großen Themen unserer Zeit. Der Schmerz um die Ermordeten, der sie so weit hinaushorchen ließ, machte sie auch hellsichtig für künftige Gefährdung. Und dabei hoffte sie doch auf die Kommenden, hoffte auf Einsicht und Verwandlung:                                                                          

 

Aber immer noch spielen die Kinder im Sande,

formen übend ein Neues aus der Nacht heraus -

Engel der Bittenden,

segne den Sand,

lass ihn die Sprache der Sehnsucht verstehn,

daraus ein Neues wachsen will aus Kinderhand,

immer ein Neues! (11)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Sur un sentier recouvert (2. Serie) 1 Andante Es-Dur, Alain Planès, Janácek Oeuvres pour piano
  2. Sur un sentier recouvert (1. Serie) En pleurs, Alain Planès, Janácek Oeuvres pour piano
  3. Sur un sentier recouvert 1, Une feuille emportée, Alain Planès, Janácek Oeuvres pour piano
  4. 1.X.1905: Mort, Alain Planès, Janácek Oeuvres pour piano
  5. Dans les brumes III Andantino, Alain Planès, Janácek Oeuvres pour piano
     

Literaturangaben:

  1. N. Sachs, Gedicht, hg. H. Domin S. 27
  2. Das Buch der Nelly Sachs S. 73
  3. N. Sachs, Gedichte, Hg. H. Domin S. 23
  4. N. Sachs, Gedichte, Hg. H. Domin S. 7     
  5. N. Sachs, Gedichte, Hg. H. Domin, S. 47
  6. N.Sachs, Gedichte, Hg. H. Domin S. 12
  7. N.Sachs, Gedichte, Hg. H. Domin S. 119
  8. Das Buch der Nelly Sachs, S. 41
  9. Das Buch der Nelly Sachs S. 20
  10. Nelly Sachs, Gedichte, Hg. Hilde Domin S. 17
  11. Das Buch der Nelly Sachs S. 10f.
07.05.2020
Angelika Obert