Ein Wunsch frei: Kinderarmut trübt das Weihnachtsfest

Ein Wunsch frei: Kinderarmut trübt das Weihnachtsfest
Die Schrift sieht erwachsen aus. "Hallo, liebe Engel" ist da auf einem gelben Stern zu lesen, der in einer Tanne hängt. "Bei meiner Freundin habe ich eine ganz tolle elektrische Eisenbahn gesehen. Über so etwas würde ich mich sehr freuen", hat ganz offensichtlich die Mutter einer zweijährigen Tochter geschrieben.
17.12.2009
Von Dieter Sell

Mehr als 100 Sterne dieser Art schmücken die Zweige des "Wunschbaumes" im Rathaus der niedersächsischen Gemeinde Grasberg bei Bremen. Sie alle haben etwas gemeinsam: Auf den Sternen sind Wünsche von Kindern aus Hartz-IV-Familien zu lesen. Schon im dritten Jahr organisiert das lokale "Bündnis für Familien" die Wunschbaum-Aktion. In Grasberg gibt es 142 Kinder im Alter bis zu 14 Jahren, die von Hartz IV oder ergänzenden Sozialleistungen leben müssen. Zu Weihnachten haben sie alle einen Wunsch frei.

"Zusammen mit dem Sozialamt haben wir die Familien angeschrieben und um Wünsche gebeten", erläutert Mitinitiatorin und Diakonin Kerstin Tönjes. 120 Sterne sind zurückgekommen - mit Wünschen, die nicht teurer sein sollen als 40 Euro. Sie reichen von Kleidung, Büchern, Brettspielen und Handys über einen "Chefsessel mit Lehne" bis zu einem schicken schwarzen Spielzeug-Helikopter. Wer im Rathaus vorbeikommt, kann sich einen Stern pflücken, das Geschenk kaufen und dann in der Verwaltung abgeben. Wenn Wunschsterne hängenbleiben, werden sie aus Spenden erfüllt.

In diesen Tagen werden die bunten Pakete an die Familien übergeben. Von Hartz IV könne man zwar leben, meint Tönjes. "Aber für Geschenke reicht es kaum." Das gilt für mehr als 2,4 Millionen Kinder in Deutschland, die Sozialleistungen bekommen, weil die Eltern erwerbslos sind oder zu wenig verdienen. "Das Ausmaß der Kinderarmut hat sich nach Einführung von Hartz IV vor fünf Jahren nahezu verdoppelt", kritisiert Fachreferent Andreas Kalbitz vom Deutschen Kinderschutzbund in Berlin.

Experten: Hartz-IV-Regelsätze sind nicht bedarfsgerecht

Mit der wachsenden Armut steigt zwischen Allgäu und Nordseeküste auch die Zahl der weihnachtlichen Wunschbäume. Dahinter stehen Privatleute, Gewerbetreibende, Kirchengemeinden, Tafeln und lokale Familienbündnisse wie in Grasberg. "Wir werden auch in diesem Jahr alle Wünsche erfüllen können", freut sich Tönjes über die Unterstützung im Ort. Auch Kalbitz lobt das ehrenamtliche Engagement, mit dem Kindern in Notlagen zumindest der Heiligabend versüßt wird. "Aber letztlich ist die Bekämpfung der Kinderarmut ureigenste staatliche Aufgabe."

Kalbitz erinnert sich an die Einführung von Hartz IV, der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, im Januar vor fünf Jahren. "Damals bekamen eine Million Kinder unter 15 Jahren Hilfen, heute sind es 1,8 Millionen, und das bei sinkenden Geburtenzahlen", kritisiert der Experte. Er fordert Gegenmaßnahmen, die nicht nur bei einzelnen Symptomen wie etwa dem fehlenden Geld für Geschenke ansetzen. "Bildung- und Betreuungsinfrastruktur müssen ausgebaut werden, die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder sind nicht bedarfsgerecht."

Auch die Nationale Armutskonferenz hält es für dringend geboten, die Sätze für Kinder anzuheben, die derzeit vom Bundesverfassungsgericht geprüft werden. Die derzeitige Pauschalregelung sei auf Erwachsene fixiert und lasse vollkommen außer Acht, dass Kinder und Jugendliche einen eigenen Bedarf an Schul-, Freizeit- und Bekleidungsausgaben hätten, sagt der Sprecher der Konferenz, Wolfgang Gern - und wird in der Praxis durch Hilfsprojekte wie dem Wunschbaum bestätigt.

Wunschbäume sorgen für Freude

Der Kinderschutzbund setzt sich mittelfristig für einen radikalen Systemwechsel ein und fordert eine Kindergrundsicherung von monatlich 502 Euro. Nach diesem Modell würden Leistungen wie Kindergeld, Kinderfreibeträge, Zahlungen aus Hartz IV und die Sozialhilfe gebündelt und an die Eltern ausgezahlt. "Das deckt den grundlegenden Bedarf der Kinder aus öffentlichen Mitteln", bekräftigt Kalbitz.

Auch wenn eine grundsätzliche Lösung auf sich warten lässt - die Wunschbäume sorgen für Freude - auch bei denen, die schenken. Dazu gehört in Grasberg ein anonymer "Sternenengel", der für einen Jungen einen elektrischen Metalldetektor besorgt hat. "Ich möchte Schätze und andere Dinge finden", begründet der Sechsjährige seinen Herzenswunsch. Der Engel hat ihm einen Weihnachtsgruß geschrieben und noch etwas draufgelegt: "Da Dein Wunsch so bescheiden war, ist noch ein Detektivspiel dabei. Vielleicht wird dann ja später ein richtiger Detektiv aus Dir."

epd