Hüppe: "Integration Behinderter lässt zu wünschen übrig"

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Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe.
Hüppe: "Integration Behinderter lässt zu wünschen übrig"
Hubert Hüppe, seit 2009 Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, kämpft unverdrossen für die Belange der knapp zehn Millionen behinderter Menschen in Deutschland. Von den Kirchen wünscht sich der engagierte katholische Christ ein noch größeres Engagement im Blick auf die gesellschaftliche Integration der Behinderten. Im Interview mit evangelisch.de beklagt er, dass es Menschen mit Behinderungen noch immer mehr als schwer haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Und dass sie nicht ordentlich bezahlt werden, stößt auf sein großes Unverständnis.

Wie hoch ist die Zahl der Behinderten gegenwärtig in Deutschland?

Hubert Hüppe: Im Jahre 2009 lebten 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland, davon zählten 7,1 Millionen als schwerbehinderte Menschen.

Wer ist aus Ihrer Sicht eigentlich behindert?

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Hüppe: Es gibt verschiedene Definitionen davon, wer als "behindert" gilt. Lange stand eher ein medizinischer Ansatz im Vordergrund, das heißt man hat geschaut, welche Funktionen ein Mensch nicht ausüben kann, eil er etwa blind, gehörlos oder querschnittgelähmt ist. Aus meiner Sicht muss eine akzeptable Definition von Behinderung die Umweltbedingungen eines Menschen und die möglichen Unterstützungen in den Mittelpunkt stellen.

Es geht also um die Frage, welche Rahmenbedingungen vorherrschen müssen, damit ein Mensch in der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben kann. Also etwa: sind Aufzüge in Gebäuden vorhanden, gibt es ein Blindenleitsystem in der Fußgängerzone, werden Gebärdensprachdolmetscher für gehörlose Menschen und andere Hilfsmittel bereitgestellt, sind Regelschulen und Betriebe auf Menschen mit Behinderung eingerichtet? Bei Vorliegen diesen Rahmenbedingungen würden viele Menschen auch nicht mehr als "behindert" gelten.

Generell muss man aufpassen, dass Menschen nicht schon wegen der Definition und den sich hieraus ergebenden Folgen ausgegrenzt werden, etwa, weil sie dann ausschließlich Unterstützungsleistungen erhalten, die an bestimmte Einrichtungen gebunden sind.

Immer wieder werden Stimmen laut die behaupten, in Deutschland würde zu leichtfertig ein Behindertenausweis ausgestellt?

Hüppe: Menschen, die mir schreiben, berichten eher von Fällen, in denen sie keinen Ausweis oder in keinen höheren Grad der Behinderung eingestuft werden. Dies betrifft auch Fälle, in denen Behörden unterschiedlich entscheiden, trotz vergleichbarer Situationen der jeweiligen Antragsteller. Fakt ist, dass die Zahl schwerbehinderter Menschen stetig steigt. Wenn man sich die Altersstruktur der schwerbehinderten Menschen anschaut, hat dies aber wohl eher mit dem demographischen Wandel als mit einer bestimmten Praxis der zuständigen Behörden zu tun.

"Der Schulbereich hat auch Folgen für die finanzielle Situation behinderter Menschen, da sie meist nur ein geringes Einkommen aus Arbeit erzielen können"

Ist die soziale und finanzielle Situation der Behinderten aus Ihrer Sicht zufriedenstellend?

Hüppe: Keinesfalls. Behinderte Menschen sind immer noch in vielen Lebensbereichen ausgeschlossen. Schauen Sie sich nur den Schulbereich an. Hier wird in Deutschland gerade einmal ein knappes Fünftel der Schülerinnen und Schüler mit sogenanntem "sonderpädagogischen Förderbedarf" in Regelschulen unterrichtet. Das ist einer der schlechtesten Werte in der EU. Noch gravierender ist die Situation beim Anteil der Schülerinnen und Schüler in Regelschulen. Hier hat Deutschland den höchsten Anteil an Schülerinnen und Schülern in Förderschulen. Hinzu kommt der verbreitete Automatismus zwischen Förderschule und Werkstätten für behinderte Menschen. Dies hat auch Folgen für die finanzielle Situation behinderter Menschen, da sie meist nur ein geringes Einkommen aus Arbeit erzielen können.

Trifft es eigentlich zu, dass Behinderte nach wie vor zu wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben?

Hüppe: Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen liegt immer noch etwa 50 Prozent über der allgemeinen Arbeitslosenquote. Überdies gibt es in Deutschland immer noch Unternehmen, die schwerbehinderten Menschen keine Chance geben. Aktuell muss man allerdings auch feststellen, dass der Aufschwung am Arbeitsmarkt auch bei behinderten Menschen langsam ankommt. Der wachsende Fachkräftemangel kann übrigens auch durchaus Positives bewirken. Arbeitgeber müssen sich auf der Suche nach Fachkräften gegenüber Beschäftigungsgruppen öffnen, die sie bisher nicht so im Blick hatten. Zukünftig könnten also auch durchaus die Chancen für behinderte Menschen am Arbeitsmarkt weiter steigen.

Haben Sie den Eindruck. dass Behinderte noch immer in der Gesellschaft diskriminiert werden?

Hüppe: Das muss man leider trotz etlicher gesetzlicher Änderungen und gesellschaftlicher Initiativen immer noch feststellen. Insbesondere gibt es immer noch die Tendenz, für Menschen mit Behinderung eigene "Sonderwelten" zu schaffen, statt die Rahmenbedingungen in der Mitte der Gesellschaft zu ändern. Allerdings habe ich auch den Eindruck, dass sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit März 2009 in Deutschland gilt, immer mehr Menschen für das Thema "Inklusion" interessieren. Das führt dann noch nicht automatisch zu mehr Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, ist aber ein wichtiger erster Schritt.

Reichen die vorhandenen Beschützenden Werkstätten für Schwerstbehinderte aus?

Hüppe: Diese Frage stellt sich meines Erachtens erst, wenn alle Möglichkeiten einer Ausbildung oder Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschöpft sind. Die Zahl der Werkstattplätze wächst ja vielmehr seit Jahren stetig. Gleichzeitig gibt es aber kaum Fälle, in denen Werkstattbeschäftigten der Weg zurück in den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht wurde. Auch die eigenen Angebote von Werkstätten in  Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts sind rar gesät. Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf haben aber ein Recht darauf, mitten in der Gesellschaft, d.h. in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts, zu arbeiten. Dafür muss die Unterstützung dem Menschen folgen und nicht umgekehrt. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass Menschen die Leistungen, die sie in Werkstätten für behinderte Menschen bekommen, in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts einsetzen können. Bisher wird diese Möglichkeit aber noch kaum angeboten.

"Menschen mit Behinderung müssen selbst entscheiden können, wie und wo sie wohnen wollen"

Zunehmend leben Behinderte in betreuten Wohngemeinschaften. Hat sich diese Form bewährt und kann sie weiter ausgebaut werden?

Hüppe: Menschen mit Behinderung müssen selbst entscheiden können, wie und wo sie wohnen wollen. Jede Form, die Menschen mit Behinderung mehr Teilhabe und Wahlfreiheit ermöglicht, ist zunächst einmal positiv. Alternative Wohnformen zu einer Heimunterbringung, wie das Wohnen in betreuten Wohngemeinschaften, sind deshalb wichtige Bausteine, um mehr selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen.

Sind Sie mit der Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen zufrieden?

Hüppe: Das ist unterschiedlich. Ich persönlich habe etwa gute Kontakte zu den Landesbehindertenbeauftragten und zahlreichen kommunalen Behindertenbeiräten. Die Zusammenarbeit funktioniert gut. Auf der anderen Seite gibt es aber andere Vertreter von Land und Kommunen, bei denen ich den Eindruck habe, dass man das Thema Teilhabe von Menschen mit Behinderung weit von sich weg schiebt.

Lässt sich ein Vergleich mit der Situation der Behinderten in Deutschland und denen in der Europäischen Union ziehen?

Hüppe: Ich glaube schon, dass wir trotz aller Kritik europaweit einen relativ hohen Standard haben. Das Kernproblem ist aber, dass sehr viel Geld in Strukturen fließt, die Menschen mit Behinderung eher noch mehr an den Rand drängen. Es wird etwa sehr viel Geld für Sonder-Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ausgegeben und nur wenig für die Unterstützung von Menschen mit Behinderung mitten in der Gesellschaft, sei es in Regelkindergärten und -Schulen, in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes oder beim Wohnen mitten im Dorf oder in der Stadt.

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Brauchen wir ein neues Jahr der Behinderten?

Hüppe: Eigentlich müsste jedes Jahr ein Jahr der Menschen mit Behinderung sein, um Inklusion ein Stück näher zu kommen. Im Laufe des Jahres helfen etwa der "Down-Syndrom-Tag" am 21. März oder der Europäischen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai, mehr Aufmerksamkeit auf die Situation behinderter Menschen und den immer noch bestehenden Handlungsbedarf zu lenken.

Sind Sie mit dem Engagement der Kirchen für die Behinderten zufrieden?

Hüppe: Ich würde mir wünschen, dass die kirchlichen Träger von Hilfen für behinderte Menschen eine Vorreiterrolle für mehr Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung einnehmen. Dies würde auch dem christlichen Selbstverständnis entsprechen, scheinbare "Außenseiter" in die Mitte zu holen. Es wäre etwa ein positiver erster Schritt, alle kirchlichen Kindertagesstätten und Schulen, von der Grundschule bis zum Gymnasium, inklusiv auszurichten. Natürlich gibt es auch im kirchlichen Bereich schon gute Ansätze, wie etwa den "mitMenschPreis" des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe, der inklusive Beispiele auszeichnet oder den "Rheinsberger Kongress", der behinderte Menschen als selbstbestimmte Akteure in den Mittelpunkt stellt. Leider sind aber auch in der Kirche noch sehr viele, die eher darauf schauen, was nicht geht, als darauf, was geht.

Ihr größter Wunsch für Ihre Arbeit?

Hüppe: Dass Menschen in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen nach Wegen suchen, Inklusion zu ermöglichen und nicht nach Begründungen, warum Inklusion angeblich nicht funktioniert.